Thüringer Allgemeine: Erinnerung für alle
von Elena Rauch
Erfurt Claudia Müller legt einen Zeitstrahl auf den Boden. Darauf rot markiert die Jahre 1933 bis 1945. Wann seid ihr geboren? Nadine Schmohl ist Jahrgang 1987 und Philipp Grenz 1983. Sehr weit von den roten Zahlen entfernt, stellt Anja Schneider fest.
Sie und Claudia Müller sind Mitarbeiterinnen beim Projekt „Barrierefrei erinnern“, Nadine Schmohl und Philipp Grenz arbeiten in Werkstätten der Lebenshilfe Jena. Und gemeinsam werden sie in der nächsten Stunde am Erfurter Gedenkort durch ein schweres Thema führen. Die Herrschaft der Nazis, ihr Bild vom Menschen und was sie mit jenen taten, die nicht hineinpassten. Weggesperrt, aussortiert, ermordet.
„Wohin bringt ihr uns?“: Noch bis zum Januar erzählt eine Ausstellung im Erfurter Gedenkort Topf & Söhne von diesem dunklen Kapitel, das als Aktion T4 in die Geschichtsschreibung einging. Der Massenmord an etwa 70.000 Menschen mit geistiger, körperlicher und seelischer Behinderung zwischen 1940 und 1941, der bis zum Kriegsende unter anderem Namen fortgesetzt wurde.
Alles zusammen ausgelotet und entschieden
Eine Ausstellung, die viel mit Text arbeitet, Zahlen, Namen, historischen Bezügen. Für Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind, bauen sich schnell Barrieren auf. Wenn man die Inhalte nicht so vermittelt, dass sie diese Hürden umgehen. Genau das macht diese Führung. Entwickelt nicht nur für Menschen mit einer Behinderung, sondern mit ihnen zusammen, vom Konzept bis zur Führung am Gedenkort. Sie sprechen von einer Tandemführung, man könnte es auch einen Dialog nennen, bei dem sie sich die Stichpunkte zuwerfen.
Wie stellt man das an? Es gibt keine Blaupause, bemerkt Projektleiterin Anja Schneider. Weshalb die gemeinsame Erarbeitung so wichtig ist. Welche Worte findet man, welche Details machen das Thema deutlich, welche lässt man weg, welche Fragen kann man stellen, welche Bilder zeigen, woran anknüpfen? Sie haben das in ihren Treffen zusammen ausgelotet und entschieden, einmal pro Woche ein ganzer Tag, im April fingen sie an, im Juni fand die erste Führung statt. Auch eine Broschüre zur Ausstellung in leichter Sprache entstand dabei. Das war, sagt Nadine Schmohl, anstrengende Arbeit, aber sie habe auch viel gelernt.
Als man in der Werkstatt nach Freiwilligen dafür suchte, hat sie sich sofort gemeldet. Warum? Weil sie schon einiges über dieses Thema wusste, sagt sie. Die Krankheit, an der sie leidet, ist vererbbar und ihre Mutter hatte ihr von Vorfahren erzählt, die von den Nazis deshalb umgebracht wurden. Diese Geschichte hat auch mit ihr zu tun.
Claudia Müller gibt die Kopie einer Kinderzeichnung in die Runde. Ein Haus, grüner Rasen mit Bäumen, darüber schwebt fröhlich ein Drache im Wind. Die Welt wie sie sein sollte in den Farben von Kindheit. Was braucht ein Kind, um gut aufwachsen zu können? Liebe, Respekt, Freunde… Der Erfurter Junge Willi Kirmes, der dieses Bild malte, hatte nichts davon. Er wurde als „schwer erziehbar“ aus der Pflegefamilie von Heim zu Heim abgeschoben, abgeschrieben und ermordet mit 16 Jahren.
Seine Geschichte erzählen sie hier auch, sie gab ihrer Führung den Namen: „Was geschah mit Willi?“ Sie arbeiten viel mit Lebensgeschichten und Bildern. Ein Propaganda-Plakat, das Menschen mit Behinderung als Last verunglimpft und eines, dass eine Bilderbuch-Familie nach Nazi-Lesart zeigt. Das Foto eines Amtsarztes kommt vor, der über Leben und Tod entschied. Bilder von den grauen Bussen mit zugehängten Scheiben, in denen die Menschen in die Pflegeanstalten gebracht wurden, die zu Mordzentren wurden. Das Foto einer Gaskammer, in der sie starben. Eine Aufnahme von Hadamar, einer dieser Tötungsanstalten, mit dem Krematorium, aus dem Rauch aufsteigt. Nach und nach füllt sich die Fläche auf dem Boden. Vom Zeitstrahl ganz oben bis zu einer Landkarte mit den sechs Mordzentren der T4-Aktion.
Teilhabe an Erinnerung und Auseinandersetzung mit Historie
Wer war, fragt Philipp Grenz in die Runde, daran beteiligt? Ärzte, Pfleger, Büroangestellte, Arbeiter in den Krematorien, Busfahrer… Ihn habe, sagt er, erstaunt und erschreckt, wie viele Menschen damals davon gewusst haben, wie viele mitmachten.
Fünf Mal haben sie auf diese Weise durch diese Ausstellung geführt und werden auch nach ihrem Ende weitermachen. Sie soll, erklärt Anja Schneider, im Roll-Up-Format transportierbar werden, damit sie mit dieser Führung auch an andere Orte, zum Beispiel in geschützte Werkstätten gehen können.
Seit 2020 fördert die Aktion Mensch das Projekt „Barrierefrei erinnern“ und sie haben mit der Lebenshilfe Erfurt auch schon durch die Ausstellung „Evas Apfelsuppe“ in leichter Sprache geführt. Das schwere Thema Holocaust, ausgelotet entlang der Geschichte der Überlebenden Eva Pusztai. Im vergangenen Jahr, erzählt Claudia Müller, konnten sie Eva Pusztai im Projekt persönlich treffen. So etwas hinterlässt Spuren. Und derzeit planen sie mit der Gedenkstätte Buchenwald, die mit dem Erfurter Gedenkort zu den Kooperationspartnern des Projekts gehört, eine Führung zum Thema Zwangsarbeit.
Es gibt noch nicht sehr viele solcher Projekte in Thüringen, die dieses Thema für Menschen zugänglich machen, die wegen einer Behinderung auf leichte Sprache angewiesen sind. Das Recht auf Teilhabe wird oft zitiert. Die Teilhabe an der Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Geschichte, bemerkt Anja Schneider, gehöre dazu.