Interview mit Anita Lasker-Wallfisch – Teil 1
Kindheit im nationalsozialistischen Breslau
Seid würdig den Namen Mensch zu tragen. Das möchte ich. Da ist nichts Besonderes dabei, seid einfach anständig.
Anita Lasker wurde am 17. Juli 1925 als jüngste von drei Schwestern in Breslau (heute Wrocław/Polen) geboren. Ihr Vater Alfons Lasker war Rechtsanwalt und Notar am Oberlandesgericht, ihre Mutter Edith eine hochbegabte Geigerin. Die Töchter Anita, Renate und Marianne lernten alle ein Instrument. In der Familie wurde viel gemeinsam musiziert. Da der Vater sich für Sprachen interessierte, wurde sonntags ausschließlich französisch gesprochen. Für die Familie spielten jüdische Traditionen kaum eine Rolle und die Synagoge wurde nur an hohen Feiertagen besucht.
Ab 1933 erlebte die Familie die Repressionen und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Am 9. November 1938 wurden in Breslau alle Synagogen und jüdische Geschäfte geplündert und zerstört. Alfons Lasker konnte seiner Verhaftung nur durch die Hilfe eines Freundes entgehen. Er versuchte nun, die Auswanderung der Familie zu organisieren, was jedoch sehr schwierig war. Schließlich gelang es nur der ältesten Schwester Marianne nach England auszureisen.
Am 9. April 1942 wurden Anitas Eltern in das Ghetto Izbica nahe Lublin deportiert. Vermutlich wurden sie dort erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Anita und Renate blieben nach der Deportation der Großmutter allein in Breslau zurück. Sie kamen in ein Waisenhaus und mussten Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Dort verhalfen sie französischen Kriegsgefangenen zur Flucht, in dem sie Papiere fälschten. Bei einem eigenen Fluchtversuch mit gefälschten Papieren wurden Renate und Anita am Breslauer Hauptbahnhof verhaftet. Am 5. Juni 1943 wurden sie wegen Urkundenfälschung zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Im Dezember 1943 wurde Anita alleine aus der Gefängnishaft nach Auschwitz-Birkenau deportiert, erst später trafen sich die beiden Schwester dort durch einen Zufall wieder. Da sie von den Nationalsozialisten als "Kriminelle" verurteilt worden war, galt Anita als sogenannter "Karteihäftling" und kam mit einem Gefangenentransport nach Auschwitz. Deshalb entging sie der bei den Massendeportationen üblichen Selektion nach der Ankunft, in der die SS für die Mehrheit der Menschen den Tod in den Gaskammern entschied. Bei der Aufnahme im Lager wurde bekannt, dass Anita Cello spielen konnte, daher wurde sie in das sogenannte Mädchenorchester unter Leitung von Alma Rosé aufgenommen. Die Frauen und Mädchen mussten vor den Mithäftlingen spielen, wenn diese das Lager zur Zwangsarbeit verließen und wenn sie abends zurückkehrten.
Im November 1944 wurde Anita zusammen mit Renate in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert und dort am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit. Nach Kriegsende sagte sie im Bergen-Belsen-Prozess als Zeugin aus. Im Jahr 1946 wanderte sie nach Großbritannien aus, wo sie als Cellistin Mitbegründerin des Londoner English Chamber Orchestra wurde.
Sie heiratete den Pianisten Peter Wallfisch, der ebenfalls aus Breslau stammte und als Professor am Royal College of Music in London lehrte. Aus der Ehe gingen der Sohn Raphael, der ebenfalls Cellist wurde, und Tochter Maya hervor. Auch ihre Enkel Benjamin, Joanna und Simon Wallfisch sind Musiker.
1994 kam Anita Lasker-Wallfisch bei einer Konzertreise zum ersten Mal wieder nach Deutschland. In den folgenden Jahren begann sie über ihr Leben zu berichten und schrieb ihr Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben". Bis heute unternimmt sie Vortragsreisen und führt Zeitzeugengespräche, um insbesondere jungen Menschen von ihrem Schicksal und dem anderer Opfer des Nationalsozialismus und des Holocaust zu berichten.