Interview mit Wolfgang Nossen – Teil 1
Kindheit in Breslau
Wir möchten so leben, hier, wie jeder andere Bürger auch. Das ist, was ich mir wünsche, ein normaler Bürger des Landes zu sein.
Wolfgang Nossen wurde am 9. Februar 1931 in Breslau (heute Wrocław/Polen) geboren. Sein Vater Max Nossen entstammte einer jüdisch-orthodoxen Fleischer- und Viehhändlerfamilie. Seine Mutter Luci, ursprünglich evangelisch, war 1929 kurz vor der Hochzeit zum Judentum konvertiert. Wolfgang hatte noch vier jüngere Schwestern. Er besuchte den jüdischen Kindergarten, später die jüdische Schule.
Im April 1933 musste die Familie ihre koschere Fleischerei schließen. Der Vater ernährte seine Familie als Arbeiter in einer Zuckerfabrik. Trotz mehrfacher Aufforderung durch die Gestapo ließ sich Wolfgangs Mutter nicht von ihrem Mann scheiden. Während des Novemberpogroms 1938 erlebte der 7-Jährige die Plünderung jüdischer Geschäfte und die Zerstörung der Hauptsynagoge. Sein Vater wurde von der Gestapo verhaftet und in das KZ Buchenwald verschleppt. Nach seiner Entlassung im Frühjahr 1939 hätte er dank der Bemühungen seiner Frau nach Shanghai auswandern können, doch er wollte die Familie nicht zurücklassen. Um ihre Kinder vor der Deportation zu schützen, wurde die Mutter 1939 bis zum Kriegsende wieder Protestantin.
1943 wurde die Familie gezwungen, ihre Breslauer Wohnung zu verlassen und in ein "Judenhaus" zu ziehen. 1944 wurde der Vater in einem Außenlager des KZ Groß-Rosen inhaftiert. Der 13-jährige Wolfgang wurde in Breslau zu Arbeitseinsätzen verpflichtet. Im Februar 1945 – die sowjetische Armee stand schon vor der Stadt – internierte die Gestapo die letzten noch in Breslau lebenden 150 jüdischen oder jüdisch verheirateten Frauen, Kinder und Alte, darunter auch Wolfgang, seine vier Schwestern und die Mutter, in einem Barackenlager. Ihrer drohenden Ermordung entgingen sie durch die Bombardierung des Stadtviertels, da die Wachmannschaften sich in Sicherheit brachten und die Internierten fliehen konnten. Bis zur Befreiung am 6. Mai 1945 versteckte sich die Familie im zerstörten Breslau.
Max Nossen, der während des Todesmarsches flüchten konnte, traf am 11. Mai auf seine Familie. Am selben Tag wurde Wolfgang bei einer Razzia von der polnischen Miliz verhaftet, weil er eine gefundene Hitlerjungen-Uniform trug. Er wurde schwer misshandelt, auch nachdem er sich als Jude zu erkennen gab, und erneut zur Zwangsarbeit verpflichtet. Ende Mai gelang ihm die Flucht und die Rückkehr zu seiner Familie.
Ab Sommer 1945 erreichten immer wieder Busse mit Rückkehrern aus dem KZ Buchenwald die Stadt. Viele deutsche Juden in der Stadt nutzten die Rückfahrt der Busse, um Polen zu verlassen. Rund 400 Breslauer Juden kamen auf diese Weise 1945 nach Thüringen, viele von ihnen nach Erfurt, darunter die Familie Nossen. Im Herbst 1948 wanderte Wolfgang Nossen in den neu gegründeten Staat Israel aus und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg. Er heiratete 1955 und bekam zwei Kinder.
Nach der Scheidung kehrte Wolfgang Nossen 1989 nach Deutschland zurück. Hier traf er seine Erfurter Jugendliebe Elisabeth wieder. Mit ihr zog er nach Erfurt und wurde Hausmeister der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Von 1996 bis 2012 war er ihr Vorsitzender. Wolfgang Nossen machte sich als unerschrockener Kämpfer gegen den Rechtsextremismus in Thüringen und darüber hinaus einen Namen.
Wolfgang Nossen starb am 16. Februar 2019.