Annegret Schüle: Begrüßung zur Eröffnung der Sonderausstellung „Die Mädchen von Zimmer 28. L 410, Theresienstadt“
Annegret Schüle, amtierende Direktorin der Erfurter Geschichtsmuseen und Kuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne
Wir zeigen die Ausstellung „Die Mädchen von Zimmer 28. L 410, Theresienstadt“ hier im Erinnerungsort Topf & Söhne, weil sie von ihrer Kuratorin Hannelore Brenner gemeinsam mit den Überlebenden geschaffen wurde und deren Vermächtnis unersetzbar ist. Wie die Überlebenden gehört werden, auch wenn sie selbst nicht mehr zu uns sprechen können, ist eine drängende Frage, und diese Ausstellung ist eine der möglichen Antworten. Dafür danken wir Hannelore Brenner, die es nach ihrer ersten Begegnung mit den Überlebenden des Zimmers 28 zu ihrer Lebensaufgabe machte, ihre Zeugnisse und Berichte zu bewahren und in einem Buch, dieser Ausstellung und pädagogischen Materialien zu vermitteln. Wir danken Dr. Ute Lemm, der künstlerischen Betriebsdirektorin und Orchesterdirektorin des Theaters Erfurt, die diese Ausstellung an uns vermittelte.
Die Zeugnisse der Mädchen von Zimmer 28 sind auch deshalb so wichtig, weil diese Kinder in einem Alter waren, in dem die Schulklassen sind, die heute unsere pädagogischen Angebote wahrnehmen. Sie hatten wie alle Kinder ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Förderung und eine Zukunft. Doch diese Mädchen wurden wie Millionen Juden, Sinti und Roma, Polen, sowjetische Kriegsgefangene und andere Verfolgte zu Opfern der Nationalsozialisten und ihren vielen Helfern, die sich das Recht herausnahmen, andere Menschen ihre Freiheit und ihr Recht auf ein würdiges Leben zu nehmen, sie zu berauben, einzusperren, zu demütigen, zu quälen und zu ermorden. Die einen machten sich selbst zu Unmenschen und den anderen – wie den Mädchen von Zimmer 28 und ihren ebenfalls inhaftierten Betreuerinnen – gelang es, unter den Bedingungen von Terror und Todesangst ihre Menschlichkeit zu bewahren und damit ihre Würde als Menschen zu behaupten. Wir zeigen diese Ausstellung, weil sie Theresienstadt als ein wichtiges Beispiel für die Selbstbehauptung der Inhaftierten durch Kunst und Kultur veranschaulicht.
Wir ehren damit auch die Betreuerinnen und Betreuer der Mädchen wie die Künstlerin und ehemalige Bauhaus-Studentin Friedel Dicker-Brandeis, die 3.000 der in ihrer Obhut entstandenen Kinderzeichnungen aufbewahrte und in Theresienstadt zurückließ und selbst 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ihr und den anderen Frauen, die die Bauhaus-Ideen in die Welt trugen, ist eine Revue mit Songs, Texten und Zeitdokumenten gewidmet, die wir in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen zur Finissage Ende Juni hier präsentierten werden.
Wir ehren Fredy Hirsch, einen der vergessenen Helden, mit der Vorstellung seiner Biografie am 4. März hier im Begleitprogramm zur Ausstellung. Fredy Hirsch, ein charismatischer Erzieher und durchtrainierte Athlet, wurde für die Kinder in Theresienstadt und Auschwitz zum Idol, weil er durch Sport und Spiel ihre seelischen und körperlichen Widerstandskräfte förderte. Er selbst starb 1944 in Auschwitz.
Wir zeigen diese Ausstellung auch, um gegen eine Lüge anzugehen, die die Nationalsozialisten in die Welt setzten und die bis heute nachwirkt. Theresienstadt war keine „Stadt mit einem fast normalen Leben“, wie es der Repräsentant des Internationalen Roten Kreuzes nach seinem Besuch dort 1944 berichtete. Dieses Ghetto war für die meisten Häftlinge eine Durchgangsstation in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Über Theresienstadt als eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung wird der Historiker Wolfgang Benz am 21. April hier im Erinnerungsort berichten. Von 141.000 Jüdinnen und Juden, die in Theresienstadt inhaftiert waren, starben 84 Prozent. Die meisten ihnen wurden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet und in den Öfen von Topf & Söhne verbrannt. Dazu zählte auch die große Mehrheit der Mädchen von Zimmer 28. Deshalb gehört diese Ausstellung hier in den Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz. Von Erfurt in Thüringen, von wo vor 80 Jahren die ersten Öfen nach Auschwitz geliefert wurden, muss heute das klare und unmissverständliche Signal gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ausgehen. Wie bitter notwendig die historisch-politische Bildungsarbeit für Demokratie und Menschenrechte geworden ist, zeigt ein Beispiel aus einer Regelschule im Thüringer Land: Als die Weltreligionen Unterrichtsstoff in einer fünften Klasse waren, protestierten Schüler dagegen, das Judentum zu behandeln.
Es ist so: 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist unsere Erinnerungskultur, die hier in Erfurt dank dieses erstrittenen Ortes und seiner vielfältiger Angebote sehr lebendig ist, ein wichtige Voraussetzung für eine lebenswerte Zukunft.