Annegret Schüle: Laudatio für Éva Fahidi-Pusztai zur Jochen-Bock-Preisverleihung am 25. Januar 2014
Annegret Schüle, Kuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne
Ich habe Éva Pusztai im April 2011 kennengelernt, als sie mit einer Gruppe von Überlebenden des KZ Buchenwald zu uns in den erst vor wenigen Monaten eröffneten Erinnerungsort Topf & Söhne kam. Im Sommer 2012 erlebte ich in Budapest, wie der deutsche Botschafter ihr das Bundesverdienstkreuz verlieh. Ich durfte ihr persönlicher Gast sein, und über der Couch, auf der ich nächtigte, hingen Fotos ihrer Familie. Nichts Ungewöhnliches, auch bei mir und sicherlich bei vielen von Ihnen hängen Fotos der Familie in der Wohnung. Der wesentliche Unterschied: Die Menschen auf den Fotos in Évas Wohnung sind seit 1944 tot, ermordet von Deutschen im Vernichtungslager Auschwitz. Nur Eva, ihre Tante und deren Mann und Tochter überlebten aus der großen jüdischen Familie in Ungarn, der Éva in ihrem wunderbaren Buch "Die Seele der Dinge" ein poetisches Denkmal setzt. 49 Menschen aus ihrer Großfamilie wurden ermordet, nachdem die Deutschen am 19. März 1944 Ungarn besetzten und die jüdischen Anwohner des Städtchens Debrecen in Ostungarn, wo Éva mit ihrer Familie lebte, erst in ein örtliches Ghetto verschleppten und dann in einer 3 – Tages – Tortur im Güter wagen nach Auschwitz deportierten.
Seit ich Éva kenne, habe ich einen anderen Zugang zu dem, was wir ziemlich abstrakt „Völkermord an den europäischen Juden‟ nennen. Ich sehe Éva als sportliche, musikalisch sehr begabte und hübsche 18-Jährige vor mir, die Pianistin werden wollte. Ich sehe ihre heißgeliebte 11-jährige Schwester Gilike und die Eltern. Ich kann ahnen, was Éva meint, wenn sie sagt, es gibt ein Leben vor Auschwitz – mit Familie, Kultur und Freunden – und ein Leben nach Auschwitz.
Éva Pusztai hat ihr Leben nach Auschwitz, als sie befreit aus ihrer letzten Haft in einem Außenlager des KZ Buchenwald im hessischen Allendorf allein nach Ungarn zurückkehrte, gemeistert. Sie ist nicht verrückt geworden, sie hat sich nicht das Leben genommen. Sie hat geheiratet, zwei Kinder großgezogen und war als leitende Mitarbeiterin im staatlichen Außenhandel erfolgreich. Und sie schwieg Jahrzehnte über die Erlebnisse, die ihr Leben vor Auschwitz zerstörten, über ihre Erfahrungen in der von Menschen gemachten Hölle. Erst als 1989 ein Signal aus Deutschland kam und das hessische Stadtallendorf die ehemaligen ungarischen Häftlinge des Außenlagers einlud, konnte sie in den Deutschen etwas anderes sehen als Täter, als Menschen, die sie erniedrigt und gequält und ihre Familie vernichtet hatten. Éva schrieb ihre Erinnerungen für die Gedenkstätte in Stadtallendorf auf und daraus wurde dann – erheblich erweitert – ihr wunderbarer Band „Die Seele der Dinge‟, der 2005 in Ungarn und 2011 in deutscher Sprache in Berlin erschien.
Seit 2004 berichtet Éva in Zeitzeugenbegegnungen vor allem vor Jugendlichen über ihr Leben. Trotz ihres hohen Alters ist sie unermüdlich. Nach dem April 2011 war sie noch drei Mal Gast im Erinnerungsort Topf & Söhne. Ihr verdanken wir wunderbare und berührende Veranstaltungen in unserem Haus. Ihr verdanken wir die Inspiration zu unserer ersten eigenen Sonderausstellung "Un-er-setz-bar. Begegnung mit Überlebenden", die inzwischen zu einer erfolgreichen Wanderausstellung wurde und am Montag an ihrer fünften Station in Gotha eröffnet wird. Wir haben diese Ausstellung, in der Éva und vier weitere Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtung porträtieren, "Un-er-setz-bar" genannt, weil wir Éva kennen.
Im Namen des Förderkreises, der Martin-Niemöller-Stiftung und des Erinnerungsortes Topf & Söhne ehren wir heute Éva Pustzai, weil sie eine unersetzbare, kraftvolle und mutige Mahnerin gegen Antisemitismus und Rassismus ist und dafür nach Jahren des Schweigens eine generationenverbindende Sprache der Erinnerung voll inspirierender Kraft und mit einer berührenden Botschaft der Menschlichkeit und der unantastbaren Menschenwürde gefunden hat.