Ansprache von Rikola-Gunnar Lüttgenau, Vertreter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, zum Gedenktag am 9. Mai 2022
Meine Damen und Herren,
ein Ort wie Buchenwald spielt – wie Sie wissen – eine zentrale Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der Thüringer Juden. Das wird deutlich im Novemberpogrom 1938: 9.828 jüdische Männer wurden nach Buchenwald verschleppt, um sie dort zu terrorisieren und – damals noch – zur Auswanderung zu zwingen. Weimar wiederum spielte als damalige Gauhauptstadt Thüringens die zentrale Rolle bei der Deportation: alle Thüringer Juden mussten erst in die dortige Viehauktionshalle, um in ihr ausgeplündert und von dort in die Ghettos im Osten deportiert zu werden. Daher auch am 19. September in Weimar die große Schreibaktion mit den Namen aller Thüringer Juden, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet wurden.
Die Menschen verschwanden in den Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern. Dort wurden sie ermordet, ihre Leichen in den Öfen verbrannt, ihre Asche irgendwo in der Umgebung verkippt. An einigen der Orte gibt es heute Gedenkstätten. Doch sie sind weit weg.
Die Menschen verschwanden vor 80 Jahren – vor allen Augen – aus Eisenach, aus Meiningen, aus Gera, aus Erfurt. Deshalb stehen wir heute hier, mitten in der Stadt. Dort, wo die Erinnerung an die eigenen Bürger/-innen hingehört.
Meine Damen und Herren,
spätestens mit dem Ende der Zeitzeugenschaft sind Gedenkstätten dazu aufgerufen, neue Formen der Erinnerung zu finden. Demokratische und nachhaltige Formen.
Vielleicht sollte man dies an diesem 9. Mai, dem 77. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, auch betonen: Es geht nicht nur darum, dass erinnert wird, sondern auch darum, wie erinnert wird. D. h.: wir reden hier nicht von festen Geschichtsbildern, die zentral und möglichst erfolgreich vermittelt werden, um Gefolgschaft für gegenwärtige Herrschaftspolitik einzufordern. Denn genau dies passiert gerade in den Militärparaden auf den Straßen in St. Petersburg oder Moskau, wenn unter dem Slogan „Wir können es wiederholen“ ein Sieg des Friedens zur Begründung eines Krieges umgedeutet wird.
Wovon wir bei der Erinnerungskultur reden, ist von der Möglichkeit eines jeden, selber Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sammeln. Wie hier: sich selber mit der Geschichte der eigenen Stadt, ihren jüdischen Menschen, ihrem Leben, auseinander zu setzen. Um selber eine historische Orientierung für sich und die Gesellschaft, in der man heute lebt und agiert, zu finden.
Das kann und darf man nicht von oben verordnen, sondern dazu braucht man Angebote, die die historische Vorstellungskraft anregen und die einem Anlässe geben, sich sein eigenes kritisches Geschichtsbewusstsein zu bilden.
Genau das haben wir anlässlich von 80 Jahre Deportation in Thüringen getan: Die Schreib-Aktion von Margarete Rabow geht bewusst in die Mitte der Städte, sie macht das Erinnern der Namen selber zu einer Erfahrung – und – das ist für mich Teil der Performance – sie verweist auch subtil auf die Brüchigkeit der Erinnerung.
Nun rufen wir – Gedenkstätten, Jüdische Landesgemeinde, Kommunen, die Landeszentrale – gemeinsam dazu auf: Lasst die Namen nicht verschwinden! Beschäftigen wir uns mit ihnen!
Und zugleich – das ist die in diesem Jahr zeitgleich erfolgende Erarbeitung eines digitalen Gedenkbuches: Sammeln wir alle Informationen zu den verschwundenen Menschen! Stellen wir sie für eine Zukunft, in der niemand ausgegrenzt und deportiert wird, dauerhaft zur Verfügung!