Walter Homolka: Laudatio für Reinhard Schramm zur Jochen-Bock-Preisverleihung am 28. Juni 2019
Walter Homolka, Rabbiner, Professor für jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit und Direktor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam
"Die Juden sind unser Unglück!". Das sagte der Brandstifter der Erfurter Neuen Synagoge im Jahr 2000, als ihn Reinhard Schramm im Gefängnis besuchte.
"Die Juden sind unser Unglück" Unter diesem schlimmen Stern stand Reinhard Schramms Leben seit Anbeginn.
Reinhard Schramm, seit 2012 Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, kam 1944 in Weißenfels als Sohn einer jüdischen Mutter zur Welt. Beide überlebten die letzten Monate in einem Versteck und die Zeit zuvor, weil sich der nicht-jüdische Vater nicht von seiner Frau scheiden ließ.
Studiert hat Reinhard Schramm in Polen, war Professor an der Technischen Universität Ilmenau und nach 1989/90 Leiter des Landespatentzentrums. Zur jüdischen Gemeinde fand er Ende der 1980er Jahre in Erfurt. Für die jüdische Geschichte seiner Heimatstadt Weißenfels interessierte er sich schon seit seiner Jugend. 1990 veröffentlichte er das Buch "Ich will leben - die Juden von Weißenfels", das 2001 in einer erweiterten Fassung im Böhlau-Verlag erschien. Eine Geschichtslehrerin berichtet über ihre Erfahrungen mit dem Band: "Dann, wenn ich keine treffenden Worte für aussagekräftige Ausführungen mehr finde, findet sie Reinhard Schramm. Das, was er mit seinem persönlichen Schicksal aufgeschrieben hat, ersetzt jede noch so sehr eingeübte Beschreibung aus der Sicht eines Historikers. Für mich und auch für meine Kinder ist es fast unbegreiflich, dass man so viel persönliches Leid in Worte fassen kann."
Reinhard Schramm gehört zu den Menschen, die immer das Gespräch suchen, auch dann, wenn es kompliziert wird. Regelmäßig besucht er die Jugendstrafanstalt Arnstadt und spricht mit rechtsradikalen Jugendlichen. Mit manch einem dieser Neonazis hat er lange Gespräche geführt. Was ihn motiviert sind die kleinen Erfolgserlebnisse, die Hoffnung, dass jene Gesprächspartner hinter Gittern, nicht noch einmal aufgrund von Fremdenfeindlichkeit da landen, wo sie jetzt sitzen. Manch einen würde man schon bald wieder sehen hinter Gittern – "alles andere wäre unrealistisch", meint die Anstaltsleiterin.
Mich beeindruckt, dass Reinhard Schramm dennoch in schwierigsten Situationen und mit Blick auf eine gemischte Erfolgsprognose den Dialog durchhält, ohne sich zu verbiegen aber auch ohne Brücken künftiger Verständigung abreißen zu lassen. Dabei ist er mutig und unbequem, zugleich sensibel und von zärtlicher Zugewandtheit.
Reinhard hat aus der Geschichte der Shoa ganz persönlich gelernt, aber so, dass er auch Empathie für andere Opfergruppen hat, z.B. die Sinti und Roma, deren Schicksal er unüberhörbar und konsequent zu Gehör bringt.
Der Menschenverachtung setzt er Gottesebenbildlichkeit und Würde entgegen, denn "das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, das Gegenteil von Gut ist Indifferenz" (A.J. Heschel). "Jede Tat zählt, jedes Wort hat Macht, und alles, was wir tun können, ist unser Beitrag zur Erlösung der Welt, angesichts all der Absurditäten und Frustrationen und Enttäuschungen." (NBC TV-Interview von 1973)
Große Worte, die einen großartigen Menschen beschreiben, der sich selbst gar nicht so wichtig nimmt. Humor, Menschlichkeit, Solidarität und Wärme sind seine Gegenmittel in einer Welt, wo vieles schief läuft.
Daraus erwächst die Kraft für alle Aufgaben, die einen kämpferischen Geist und Durchsetzungskraft benötigen. Und Kraft erwächst aus seiner Familie, der Frau Barbara, seinen beiden Söhnen und der "besten Tochter von allen".
Wo seine Frau von jeher gerne auf ein klares Wort und entschiedene Haltung setzt, da ergänzt er dies durch Selbstironie und zugleich Nähe, Verständnis und durch die Bereitschaft zu verzeihen. Reinhard Schramm ist ein Mensch der leisen Töne. Dem Brandstifter sagt er nur: "Wie kann denn ich, oder meine Mutter oder Großmutter Ursache Deines Lebensunglücks sein, des Unglücks eines ganzen Landes, das erkläre mir mal." Da ist sie, die Hoffnung auf Umkehr, das Ringen um den Menschen, die Hoffnung auf Veränderung.
Reinhard Schramm ist die Verkörperung der "Bürgerpflicht zum Neinsagen". Dem Handelsschüler Jochen Bock und den Seinen im Widerstand gegen Hitler hätte das gefallen. Deshalb wird er heute gewürdigt und ausgezeichnet.
Ich gratuliere!