Michael Ebling: Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung "Industrie und Holocaust" im Mainzer Rathaus
Michael Ebling, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Mainz
Sehr geehrter Herr Hagemann,
sehr geehrte Frau Dr. Schüle,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Ausstellung „Industrie und Holocaust“, die wir heute gemeinsam eröffnen und zu der ich Sie im Namen der Landeshauptstadt Mainz sehr herzlich begrüßen darf, macht es uns nicht leicht.
Sie stellt sich uns – wie Sie sehen – mitten in den Weg.
Sie ist sperrig im wahrsten Sinne des Wortes und zwingt uns förmlich zum Hinsehen. Das, worüber wir in den kommenden Wochen fast stolpern werden, wann immer wir in den Ratssaal möchten, ist eben nicht nur irgendeine historische Ausstellung. Es ist ein besonders dunkles und schreckliches Kapitel deutscher Geschichte. Und dieses Kapitel ist erschütternd zu lesen.
Noch erschütternder aber ist, dass uns das Gelesene fast mit mehr Fragen als Antworten zurücklässt: Wie konnte es geschehen, dass ein Traditionsunternehmen wie die Erfurter Firma Topf & Söhne Teil einer monströsen Vernichtungsmaschinerie wurde? Wie konnte es geschehen, dass Firmeninhaber und beteiligte Mitarbeiter – ganz normale Bürger, teilweise sogar selbst Verfolgte des Regimes und keineswegs fanatische Nationalsozialisten – zu den „Ofenbauern von Auschwitz“ wurden?
Wer anfängt sich einzulesen in die reiche Aktenlage oder anfängt sich in die akribisch recherchierten Lebenswege der Täter vertieft, der wird eines schnell feststellen: Je mehr wir nach Antworten und Erklärungen suchen, desto mehr blicken wir in zivilisatorische Abgründe. Und wir blicken mitten hinein in die unheilvollen Verstrickungen gerade auch der privaten Wirtschaft mit dem NS-Regime und ihre Teilhabe an den nationalsozialistischen Verbrechen. Selten tritt dabei so offensichtlich wie hier zu Tage, dass der Holocaust nicht nur das Werk von Ideologen oder antisemitischen Fanatikern war, sondern auch all jener, die aus privaten, wirtschaftlichen oder unternehmerischen Interessen, aus Forscherehrgeiz oder Machtkalkül mit den Nationalsozialisten paktiert haben.
Die Erfurter Ausstellung zeigt diese Verstrickungen anhand von Geschäftszahlen, Korrespondenzen, Skizzen, Fotografien, Biografien und vielem mehr schonungslos und detailliert. Sie erzählt auf 35 Tafeln, die den Zeichentischen der Erfurter Ingenieure nachempfunden sind, die Vor- und Nachgeschichte der Firma Topf & Söhne ebenso wie die jahrelange enge Zusammenarbeit zwischen den Söhnen und Geschäftsführern Ernst Wolfgang und Ludwig Topf, dem Ofenbau-Ingenieur Kurt Prüfer und der SS.
Und mehr noch: Sie erzählt nicht nur, was war, sondern sie stellt zugleich auch die Frage nach dem Schuldigwerden des Einzelnen. Diese Frage aber ist heute noch genauso aktuell wie damals.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ausstellung „Industrie und Holocaust“ war zuletzt am Ort des Schreckens selbst, in Auschwitz, zu sehen. Dass wir sie in den kommenden Monaten in Mainz zeigen können, ist ein großer Gewinn für unsere Stadt, und ich danke dafür ganz besonders unserer Partnerstadt Erfurt, die die Wanderausstellung konzipiert hat, sowie der Kuratorin Frau Dr. Annegret Schüle, die uns gleich noch einen vertieften Einblick in die Geschichte der Firma Topf & Söhne geben wird.
Ich hoffe – und bin mir sicher – dass die Ausstellung breite Resonanz in der Öffentlichkeit finden wird, gerade auch bei der jungen Generation. Mein Dank gilt daher nicht nur allen Organisatoren sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kulturamtes der Stadt Mainz, die mit großem Engagement diese Ausstellung in Mainz möglich gemacht haben. Sie gilt auch dem Institut für Lehrerfort- und Weiterbildung ILF, das in Kooperation mit dem Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Stiftung „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz“, dem Verein für Sozialgeschichte Mainz und dem rheinland-pfälzischen Landesverband der Geschichtslehrer Deutschlands begleitend dazu ein Lehrer-Seminar konzipiert hat.
Denn warum soll, warum muss uns heute noch interessieren was vor über 70 Jahren war? Warum müssen wir uns erinnern – noch dazu an Geschehnisse, auf die wir alles andere als stolz sein können? Warum alte Wunden wieder aufreißen?
All das sind Fragen, denen diese Ausstellung – teils unterschwellig, teils ganz offen – auch nachgeht; Fragen, die mitten hinein zielen in das, was wir „Erinnerungskultur“ nennen. Die Art unseres Erinnerns ist – ob wir wollen oder nicht – immer auch Teil unserer Identität. Wir können uns der Erinnerung stellen und damit Licht ins Dunkel bringen. Oder wir können sie negieren – und damit uns und unseren nachfolgenden Generationen eine schwere Bürde auferlegen.
Ich wünsche mir sehr, dass die Menschen, die sich diese Ausstellung ansehen – und darunter sind hoffentlich auch viele junge Menschen – sich zu genau diesen Fragen und Diskussionen anregen lassen. Ich wünsche mir, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen: aus Mitgefühl und Respekt für die Millionen ermordeter und verfolgter Menschen, aber auch, um unsere Demokratie wehrhaft und stark zu machen.
Vielen Dank an alle, die mit dieser Ausstellung dazu aktiv beitragen, und an alle, die sich heute und in den kommenden Monaten diesem komplexen, diesem zutiefst bewegenden Thema widmen.