Thüringische Landeszeitung: Vom Glück, in einer Demokratie zu leben

27.01.2014 08:00

Erstmals Jochen-Bock-Preis an unermüdliche Streiter für den Frieden verliehen

von Heidrun Lehmann

Daberstedt. Eugen Mantu fesselte die Zuhörer auf seine Art. Der rumänisch-deutsche Solocellist des Philharmonischen Orchesters Erfurt wählte mit Bedacht jenes jüdische Schlaflied, das Gideon Klein im Konzentrationslager Theresienstadt schrieb, wohin er 1941 deportiert worden war. Obwohl oder gerade weil der Komponist als Mozart des 20. Jahrhunderts gilt, weckte „Lullaby“ eher ein Gefühl der Kälte und Verlorenheit, die dem schneegrauen Januartag glich, der am Samstag vor den Fenstern des Erinnerungsortes Topf & Söhne hockte.

Ähnlich schemenhaft auch das Porträt eines jungen Mannes im Hintergrund, der mit einer angedeuteten Frage auf den Lippen die Besucher in seinen Bann zog: Jochen Bock, einst Mitschüler von Karl Metzner an der Städtischen Handelsschule Erfurt, der 1943 gemeinsam mit weiteren drei 15- und 16-Jährigen – Günter Bergmann, Helmut Emmerich und Joachim Nerke – Flugblätter gegen den von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg verfasste und verteilte, von der Geheimen Staatspolizei verhaftet, verhört, verurteilt und bis zum Kriegsende im Gefängnis Andreasstraße eingesperrt wurde. Er verstarb 1947 an den Folgen der Haft.

Der Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne um Leiterin Dr. Annegret Schüle und dessen Vorsitzenden, Rüdiger Bender, spürte dieser bisher weitgehend unbekannten Geschichte nach und regte in Zusammenarbeit mit der Martin-Niemöller-Stiftung die Vergabe des Jochen- Bock-Preis an, der am Samstag erstmals an drei mutige, unermüdlich für den Frieden und gegen Antisemitismus streitende Persönlichkeiten verliehen wurde: Karl Metzner, Pfarrer im Ruhestand, Wolfgang Nossen, fast zwei Jahrzehnte Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen und Éva Pusztai, die als Überlebende von Auschwitz nach langen Jahren des Schweigens Kraft und Worte fand, um als Zeitzeugin auch in der Erinnerungsstätte Topf & Söhne an der Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels deutscher Geschichte mitzuwirken. Die gebürtige Ungarin, Autorin des Buches „Die Seele der Dinge“, erwiderte nach der Verleihung des Jochen-Bock-Preises ganz bewusst und mit Verweis auf aktuelle nationalistische Strömungen in ihrem Heimatland, dass so mancher gar nicht um sein Glück wisse, in einer lebendigen Demokratie leben zu dürfen. Früher als andere benannte Wolfgang Nossen die vom Rechtsextremismus ausgehende Gefahr und stellte in den Raum, dass es heute möglicherweise kein NSU-Problem gebe, wären seine Warnungen beizeiten erhört worden. Karl Metzner erinnerte an eine Begegnung mit dem Rabbiner Raphael Scherf-Katz während einer Kinderbibelwoche vor 30 Jahren. Als der Gast in Tränen ausbrach, habe er erschrocken gefragt, ob ihm ein Fehler unterlaufen sei. Als Erwiderung glitt dem Rabbiner damals über die Lippen: „Ihr habt wenigstens noch Kinder...“ Mit einem „Schalom“ verband der Pfarrer im Ruhestand seine Genugtuung, dass heute wieder eine jüdische Gemeinde in Erfurt Fuß gefasst habe.

Als Überraschung für Karl Metzner hielt Dr. Heino Falcke die Laudatio für den Mitbegründer des Thüringer Aktionskreises für den Frieden, der bei seiner Mitarbeit in zahllosen Vereinen, Initiativen und Aktionsgemeinschaften immer er selbst geblieben sei. Der Altpropst würdigte den früheren Handelsschüler, der sogar die Haft in der Andreasstraße in eine Bildungsklausur umwandelte, indem er die Gefängnisbibliothek durchforschte. Unerschrocken habe er in drei Gesellschaftsordnungen geradlinig und kritisch geholfen, Gräben zu überbrücken.

Mit dem Jochen-Bock-Preis, nach dem im Nazi-Jargon als Rädelsführer der mutigen Aktion bezeichneten Aktivisten aus der Zeit des NS-Regimes, würdigt der Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne den Mut von Jochen Bock und seinen Gefährten und erinnert an ihr Schicksal in einem der schwärzesten Kapitel deutscher Geschichte. Rüdiger Bender, in den Vorstand der Martin-Niemöller-Stiftung berufen, betrachtet den Akt der Preisverleihung drei Jahre nach Eröffnung der erinnerungsschweren Stätte im Sorbenweg als folgerichtigen Schritt. An einem Ort der Mittäterschaft, dem ehemaligen Firmengelände von Topf & Söhne, werden Menschen gewürdigt, „die die Bürgerpflicht zum Neinsagen gegen Antisemitismus, Antizionismus und jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in ermutigender Weise wahrgenommen haben.“

Abschlussveranstaltung zur Sonderausstellung „Entkommen?“ mit Wanderausstellung „Kinder im Versteck“: heute, 19:00 Uhr, Erinnerungsort Topf & Söhne, Sorbenweg 7.

Fotos:

Wolfgang Nossen, Éva Pusztai und Karl Metzner (v. l.) wurden am Samstag mit dem erstmals verliehenen Jochen-Bock-Preis des Förderkreises Erinnerungsort Topf & Söhne sowie der Martin Niemöller-Stiftung geehrt. Er ist einem bis dato weitgehend unbekannten jungen Erfurter Berufsschüler gewidmet, der an den Folgen der Inhaftierung durch das NS-Regime 1947 verstarb.

Jakob und Nikita Geller verneigten sich musikalisch.