Annegret Schüle: Rede zur Eröffnung der Sonderausstellung „Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung“

Lieber Prof. Dr. Lehnstaedt, liebe Miriam Rieger von der Landeszentrale für politische Bildung, liebe Gäste der heutigen Ausstellungseröffnung,
Sie hörten das Lied „Zur mischelo“, das am gerade zu Ende gehenden Schabbat gesungen wird. Unsere Freiwillige im FSJ Kultur spielte es in drei Tonlagen. Danke, Deborah Driesner.
Ich bin sehr froh, dass wir die Ausstellung „Verfolgen und Aufklären“ der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz und der Touro University Berlin in Kooperation mit The Wiener Library, die 20 jüdischen Pionierinnen und Pionieren der ersten Generation der Holocaustforschung ein Denkmal setzt, heute eröffnen und für einen langen Zeitraum, bis 1. November 2026, zeigen können.
Unser Kooperationspartner ist die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen und ich freue mich, dass Miriam Rieger nach mir einige Worte an Sie richten wird.
Ich begrüße Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien an der Touro University Berlin und mit dem Rechtshistoriker Dr. Hans-Christian Jasch wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung, die die beiden gemeinsam mit Studierenden erarbeiteten. Er ist heute aus Berlin angereist, um Sie inhaltlich in die Ausstellung einzuführen. Zur Vertiefung können Sie den von ihm mitherausgegebenen Katalog zur Ausstellung heute erwerben.
Prof. Lehnstaedt sind wir als Erinnerungsort Topf & Söhne schon lange in guter Zusammenarbeit verbunden, vor drei Jahren stellte er bei uns sein Buch über die „Aktion Reinhardt“ vor, das die Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka, in dem die Nationalsozialisten fast zwei Millionen Menschen mit Gas ermordeten, aus dem erinnerungskulturellen Schatten von Auschwitz holt. Diese Lager stehen wie das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, dessen Befreiung wir am Montag um 15 Uhr mit einer Gedenkstunde am Stein der Erinnerung begehen, für den Kern des Holocaust: die industrielle Tötung von Menschen. Indem die Täter die Mordstätten abbauten und alle Zeugnisse verbrannten, wollten sie nicht nur die physische Existenz ihrer Opfer vernichten, sondern auch die Erinnerung an sie.
Angesichts vieler Bücher, Filme, Gedenkstätten, Lehrstühle und Lernmaterialien, die die Shoah heute als präzedenzloses Massenverbrechen erforschen, erinnern und vermitteln, ist uns ein entscheidender Sachverhalt oft nicht bewusst. Diese Aufklärung und Erinnerungskultur wurde erkämpft gegen die Täter, Mittäter und Mitwisser am Völkermord an den Jüdinnen und Juden, zu denen auch Menschen zählten, die hier in diesem Verwaltungsgebäude vor über 80 Jahren arbeiteten. Denn ihr Interesse war es, die Spuren ihrer Verbrechen oder ihrer Komplizenschaft vollständig zu tilgen. Diesen Zweck dienten auch die Leichenverbrennungsöfen, die eine Etage über uns entwickelt wurden. Den Opfern wurde nicht nur ihr Existenzrecht auf dieser Erde abgesprochen, ihnen wurde auch ihr historischer Platz in der gesellschaftlichen Erinnerung verwehrt. Als hätten sie nie gelebt.
Es ist so naheliegend wie beschämend für die Mehrheitsgesellschaft, dass am Anfang der Erforschung und Dokumentation, des Gedenkens, der strafrechtlichen Ahndung und Vermittlung der Selbstbehauptungswillen und die Lebensleistung von Jüdinnen und Juden stand, die unter den widrigsten Bedingungen und gegen große Ablehnung ein Netzwerk der ersten Generation der Holocaustforschung bildeten und mit ihrem Vermächtnis unser heutiges Wissen über den Holocaust begründeten.
Für unsere Gesellschaft heute ist es entscheidend, dass wir in diesem Vermächtnis den radikalen Bruch mit der nationalsozialistischen Geschichte als unser Fundament verteidigen und uns täglich bewusstmachen, wohin die Muster der Entwertung, Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung von Menschen, die nicht in das antisemitische und rassistische, zutiefst menschenverachtende Weltbild der Nationalsozialisten und ihre geistigen Nachfahren heute passen, schon einmal geführt haben.
Es ist gut, dass diese Ausstellung, die neben Orten in Deutschland auch in New York, Wien, Paris und London präsentiert wurde, nun in Erfurt gezeigt werden kann. Denn gerade hier in diesem Bundesland braucht es angesichts einer als verfassungsfeindlich und rechtsextremen eingestuften Partei, die durch Wahlen immer mehr Machtpositionen in Politik und Gesellschaft für ihre Hetze gegen Minderheiten und Vielfalt und für ihren Geschichtsrevisionismus erhält, Räume. Räume der Ermutigung durch die historische Auseinandersetzung und der aktuellen Reflektion über Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde als Errungenschaft und Verantwortung. Dafür steht auch der Erinnerungsort Topf & Söhne.
Es ist gut, dass immer mehr Gruppen von Jugendlichen kommen, um sich hier im Haus in mehrstündigen Seminaren mit unterschiedlichen Aspekten der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer eigenen Verantwortung heute auseinanderzusetzen. Die Zahl dieser Seminare hat sich von 2023 auf 2024 um 40 Prozent gesteigert. Und es ist gut, dass uns mit Unterstützung freiberuflich Teamender und Partner wie der Landeszentrale für politische Bildung gelingt, den Anfragen der Schulen trotz begrenzter Ressourcen zu entsprechen. Dafür bin ich meinem Team dankbar.
Ab heute bereichert das Vermächtnis der ersten Generation der Holocaustforschung, das wir in unser Bildungsangebot aufnehmen, diesen Raum der Auseinandersetzung. So wie uns auch das Zeugnis der letzten Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung uns bereichert und in unserem Bewusstsein unserer Verantwortung für eine Zukunft stärkt, in der Menschenrechte bewahrt und Vielfalt geschätzt wird. Dieses Vermächtnis bewahren wir in Videointerviews und werden es in Zukunft auch in die Dauerausstellung „Techniker der ‚Endlösung‘“ integrieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe nun das Wort an Miriam Rieger, danach wird Prof. Dr. Lehnstaedt in die Ausstellung einführen.