Stephan Lehnstaedt: Rede zur Eröffnung der Sonderausstellung „Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung“

25.01.2025 10:00

„Das Vermächtnis der in dieser Ausstellung gezeigten Frauen und Männer, dieser Überlebenden und Helden, ist ein stetiger Ansporn. Es ist ihre Leistung, die unsere heutige Arbeit erst möglich macht. Wenn sie damals nicht mit der Dokumentation, mit der Erforschung und dem Bewahren begonnen hätten, wenn sie nicht Quellen gesichert und Berichte verfasst hätten, gäbe es weder die moderne Holocaust-Forschung noch überhaupt das Gedenken an dieses deutsche Menschheitsverbrechen.“

Mann im Anzug zwischen Postern
Foto: Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt, wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung, bei seiner Rede zur Eröffnung von „Verfolgen und Aufklären“ am Erinnerungsort Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Zwischen 1939 und 1945 ermordeten die Deutschen und ihre Helfer in Europa annähernd sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Der Holocaust zielte auf die Vernichtung von Menschen ebenso wie auf die Zerstörung ihrer Kultur. Alle Spuren des Verbrechens sollten getilgt werden. Dieser vollständigen „Auslöschung“ versuchten jüdische Forscherinnen und Forscher noch während des Mordens entgegenzuwirken. Durch das Sammeln von Zeugnissen dokumentierten sie das Geschehen, um die Dimensionen des Massenmordes und die Vernichtung jüdischer Lebenswelten sichtbar zu machen und daran zu erinnern. Im Exil, aber auch unter lebensfeindlichen Bedingungen in den Ghettos und Lagern, erforschten sie die Taten, sammelten Fakten und sicherten Spuren. Sie gründeten Archive und Gremien, die nach Kriegsende ihre Arbeit fortsetzten. Und sie wollten an die Ermordeten erinnern, die Shoah ergründen, die Täter vor Gericht stellen und gleichzeitig einen erneuten Genozid unmöglich machen.

Angetrieben von unterschiedlichen Motiven, widmeten sich diese Frauen und Männer mit vielfältigen beruflichen Hintergründen der Erforschung und dem Gedenken an den Holocaust. Sie verweigerten damit den Verbrechern den endgültigen Triumph: Der millionenfache Mord fiel nicht dem Vergessen anheim und blieb nicht ohne Konsequenzen. Bücher, Gedenkstätten, Forschungsinstitute, Gerichtsprozesse und nicht zuletzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie die UN-Genozidkonvention von 1948 waren Resultate ihres leidenschaftlichen Engagements. Auf diesem Vermächtnis beruht unser heutiges Wissen und fußt die Erinnerung an den Holocaust.

Namen wie Rachel Auerbach, Raphael Lemkin, Alfred Wiener, Joseph Wulf oder Leon Poliakov stehen exemplarisch für eine kleine Gruppe unermüdlicher Aufklärerinnen und Aufklärer. Ihre Arbeit fand unter widrigsten Bedingungen im Chaos der Kriegs- und Nachkriegsjahre und im Angesicht des schmerzhaften Verlustes ihrer Angehörigen und ihrer Heimat statt. Von ihrer Umwelt mit Gleichgültigkeit und Ablehnung gemieden, schufen sie die Grundlagen für die universelle Anerkennung des Holocaust als Menschheitsverbrechen.

Andere überlebten den Völkermord nicht und leisteten dennoch einen wichtigen Beitrag zu dessen wissenschaftlicher Erforschung. Das prominenteste Beispiel ist natürlich Emanuel Ringelblum, der im Warschauer Ghetto die Gruppe „Oyneg Shabes“ (Freude am Schabbat) gründete, die eine der berühmtesten Quellensammlungen des Holocaust zusammentrug. Aber auch die Angehörigen der Sonderkommandos, die Kassiber über die massenhafte Vergasung von Menschen verfassten und versteckten – wie Filip Müller –, leisteten einen Beitrag, um die Verschleierungsversuche der Täter zu vereiteln.

Einerseits wollten sie die deutschen Verbrechen für die Nachwelt festhalten, andererseits ging es darum, die Zeitgenossen aufzurütteln: Der Genozid durfte kein Geheimnis bleiben! Alle Ressourcen waren zu mobilisieren, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Vernichtung der Juden zu lenken. Ich will an dieser Stelle nicht diskutieren, wer wen auf welche Weise über den Holocaust informierte, und welche Konsequenzen das hatte oder auch nicht hatte. Hierüber werden nach wie vor hoch emotionale Debatten geführt und Bücher geschrieben. Und tatsächlich hatte Emanuel Ringelblum selbst schon am 30. Juni 1942 notiert:

„Wie ist es möglich, dass die polnische Regierung, die über einen eigenen Radiosender verfügt, von all dem nichts gewusst hat, was sich hier abspielte? Es drängt sich doch die bittere Frage auf: Wenn man in London von einem Tag zum anderen von 100 im Pawiak [dem Warschauer Gefängnis] Erschossenen wusste, wieso dauerte es dann mehrere Monate, bis man dort erfuhr, dass Hunderttausende Juden hingemordet worden? Auf diese Frage lässt sich nicht mit irgendwelchen Ausflüchten antworten.“

Aber um wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren zu können: Natürlich war der Holocaust bekannt. Er war ein öffentliches Geheimnis für Deutsche und Juden gleichermaßen. Doch die große Mehrzahl dieser Menschen wollte den Völkermord nach Kriegsende einfach nur vergessen.

Deshalb wurden die Mütter und Väter der Holocaustforschung in noch größerem  Maße unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv. In Polen und auch in anderen Teilen Europas etablierten sich bereits 1944 verschiedene jüdische historische Kommissionen, in denen teilweise mehrere hundert Überlebende tätig wurden: Sie sammelten Täterdokumente, interviewten Zeitzeugen und sicherten an den Orten der Vernichtung Beweisstücke.

„Diejenigen, die dort Zeugnis ablegten und dokumentierten, kannten die unüberbrückbare Kluft zwischen der unbegreiflichen Realität der Ereignisse und deren sprachlicher und visueller Repräsentation. Meine Kollegin Katrin Stoll aus Jena hat messerscharf herauspräpariert, wie diese survivor scholars in Łódź, Warschau, Białystok und in anderen Städten zusammenkamen, Tausende Zeugenberichte sammelten und Quelleneditionen und Schriften von Überlebenden über die Ereignisse veröffentlichten, um die präzedenzlosen deutschen Verbrechen zu dokumentieren. Es ging ihnen dabei auch explizit um eine jüdische Perspektive auf die Verbrechen. Diese fehlte in den Dokumenten der Täter, welche die Grundlage der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher darstellten. Im Gegensatz zu den Alliierten nahmen die survivor historians die Verfolgung und Ermordung der Juden und Jüdinnen nicht als ein Verbrechen in einer langen Liste der Nazi-Verbrechen wahr. Die Zerstörung des europäischen Judentums war für sie ein präzedenzloses Ereignis.“

„Die frühen Schriften und Quelleneditionen der Überlebenden sind ein historiografisches Genre sui generis. Die survivor scholars hielten es für ihre Pflicht, die Wirklichkeit des Massenmordes so genau wie möglich zu beschreiben und an das polnische Judentum der Vorkriegs- und Kriegszeit, zu dem sie gehörten, zu erinnern. In dem Wissen, dass die Deutschen versucht hatten, alle Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen, waren die Überlebenden bestrebt, der Welt die Wahrheit zu vermitteln. Sie schrieben mit Leidenschaft und aus einem Gefühl tiefer Empörung heraus. Der Historiker und Direktor der Kommission, Dr. Filip Friedman, schreibt in seinem Vorwort zu einer von Nachman Blumental herausgegebenen Dokumentensammlung zu den NS-Vernichtungslagern in Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Sobibór und Bełzec: „Unser Zeitalter verdankt dem Volk der Dichter und Denker die Entstehung eines neuen Wissenschaftszweigs, von dem die Philosophen bisher nicht geträumt haben. Dieser neue Wissenschaftszweig ist die obozologia [Lagerologie].“

„Die Deutschen hätten „eine neue Geografie“ geschaffen. Wer in Polen habe von den „Millionenstädten“ Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Bełzec, Chełmno, Sobibór und anderen gehört? Diese Städte – Nekropolen – seien erst als Resultat der massenhaften Nazi-Verbrechen, welche die unbekannten Ecken mit Millionen Leichen bevölkerten, zu einem Bestandteil der Geografie Polens geworden. Um die Ziele der Nationalsozialisten zu verwirklichen, also bestimmte nationale und ethnische Gruppen massenhaft und total zu vernichten, sei, so Friedman, „eine ganze Vernichtungswissenschaft“ entstanden.

Friedman nennt die Institution der Lager als eines der wichtigsten Instrumente dieser „Völkermordwissenschaft“, einer deutschen Wissenschaft also, deren Kernbereich die Erfindung und Erschaffung eines Systems ist, durch das möglichst viele Juden und Sinti und Roma in möglichst kurzer Zeit auf möglichst grausame Weise an einem entlegenen Ort ermordet werden können. Die Analyse dieser Vernichtungswissenschaft galt Friedman als eines der zentralen Teilgebiete der obozologia. Er schrieb seinen Text im März 1946. Kurz zuvor hatte er bereits ein Programm mit Themenfeldern für die zukünftige Holocaustforschung konzipiert.“

So etwas gab es nicht nur in Polen. Wissenschaft fand auch in anderen Teilen Europas statt. In Budapest wurden umfassende Interviews mit Überlebenden der Ghettos und Lager geführt, und in Italien erstellten Adolfo Vitale und seine Mitarbeiter Listen mit den etwa 11 000 aus Italien und der Adriaregion in die Vernichtung Deportierten, um das Ausmaß der Katastrophe zu erfassen.

Es war DER Ausgangspunkt der Holocaustforschung, die mit bemerkenswerten methodischen Reflexionen der Forschenden und Überlebenden über ihre eigene Doppelrolle einherging. Sie konnten nicht einfach zu einer emotionslos distanzierten Beschreibung des Geschehens ansetzen, sondern mussten vielmehr als unmittelbare Beobachter Zeugnis ablegen. Die Arbeit an der Erinnerung war ein Teil dieses Prozesses. Dieser konnte auch Teil eines persönlichen Bearbeitens der erlebten Traumata sein und den zum Teil langen Aufenthalt in DP-Camps überbrücken, um durch die Ermittlung von Tätern zumindest ansatzweise Gerechtigkeit herzustellen und Genugtuung zu finden.

Das macht deutlich, wie sehr die drei Dimensionen des Dokumentierens, Erforschens und Erinnerns miteinander verbunden waren – oder besser: ineinander übergingen und nicht ohne einander denkbar waren. Erste Gedenkorte und Gedenksteine richteten Überlebende an Orten der Verfolgung ein, die nicht selten – wie etwa Teile des Lagerkomplexes von Bergen-Belsen – nach der Befreiung als DP-Camps genutzt wurden. Ebenso stehen dafür Quellensammlungen, gelehrte Abhandlungen oder eher literarische Arbeiten wie Wassili Grossmans und Ilja Ehrenburgs „Schwarzbuch“ über die sowjetischen Juden, das jedoch zensiert und verboten wurde. Die Druckstöcke wurden eingeschmolzen, da die Sowjetunion kein Interesse hatte, das Leiden und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung herauszustellen.

Wie in der Erinnerung gab es auch in der Erforschung Aufmerksamkeitsökonomien. Es gab politisch opportune Beschäftigungen – und solche, die weniger opportun waren. Wo der Staatssozialismus die Schicksalsgemeinschaft aller Verfolgten und den heroischen Widerstand der Kommunisten betonte, musste sich auch das jüdische Schicksal in dieses Narrativ einfügen. Forschungen zum Warschauer Ghettoaufstand und zum jüdischen Widerstand – der sich im Zeichen internationaler Solidarität angeblich mehr oder weniger identisch mit dem kommunistischen Widerstand gewesen sei – waren im Sozialismus erwünscht; Studien zu jüdischen Opfern, die auf eine Singularität oder zumindest Besonderheit des Holocaust hinausliefen, viel weniger.

Gedenken konnte also schwierig sein. Doch für die erste Generation der Holocaustforschung ging es mindestens genauso sehr um Strafverfolgung und Prävention. Und während die Strafverfolgung nur eingeleitet wurde, wenn die Täter ermittelt und überführt werden konnten, erschien eine wirksame Prävention nur möglich, wenn die Spezifika einer ethnisch-rassistischen Verfolgung deutlich gemacht und von anderen Gewalttaten klar unterschieden werden konnten. Die frühe Holocaustforschung hatte daher eine eminent juristische Perspektive.

Ebenso wie Dokumentation und Erinnern auf verschiedenen Wegen stattfinden konnten, gab es auch auf rechtlichem Gebiet unterschiedliche Vorgehensweisen. Das „crime without a name“, von dem Churchill bereits im Sommer 1941 gesprochen hatte, galt es zuerst in juristische Tatbestände zu übersetzen. Theoretiker des Völkerrechts wie Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht entwickelten die Konzepte von „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“; Praktiker wie Simon Wiesenthal oder Tuviah Friedman spürten Mörder auf und führten sie den Strafverfolgungsorganen zu.

Auch wenn dem Holocaust im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess keine zentrale Rolle zukam und der Judenmord nur als eine Art weiteres Kriegsverbrechen behandelt wurde, nahm er doch in einigen anderen alliierten Prozessen größeren Raum ein. Die von den Überlebenden gesammelten Zeugnisse und geretteten Dokumente – wie die des Centre de documentation Juive Contemporaine (CDJC) in Paris – spielten bei der Rekonstruktion des Tatgeschehens und bei der Überführung der Verantwortlichen eine wichtige Rolle.

Männer wie Léon Poliakov, Filip Friedman, Hersch Lauterpacht, Raphael Lemkin oder Jacob Robinson wirkten beratend und unterstützend an den Prozessen mit. Andere nahmen als Dolmetscher oder Vernehmer an Verhören von Beschuldigten und Zeugen und Zeuginnen teil. Jüdische Exilanten wie Robert Kempner oder Benjamin Ferencz wurden sogar als Ankläger tätig.

Wie wichtig die Dokumentation von Straftaten war, haben manche Akteure wie Alfred Wiener schon früh erkannt. Der deutsche Jude, der sich schon vor 1933 für den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens mit dem Problem des Antisemitismus beschäftigt hatte, setzte seine Dokumentations- und Forschungstätigkeit zu antisemitischen Straftaten nach seiner Flucht ins holländische und später britische Exil und in den USA fort. Aus seiner gemeinsamen Tätigkeit mit Eva Reichmann ist die Wiener Library in London hervorgegangen.

1945 aber fanden sich viele Überlebende zunächst in Deutschland wieder, wo sie nach den Todesmärschen und in den Konzentrations- und Arbeitslagern von den alliierten Armeen befreit worden waren oder wohin sie gingen, weil eine Rückkehr in ihre Heimatländer aufgrund von neuer Verfolgung und Bürgerkrieg nicht mehr möglich erschien. Vor der Auswanderung standen oft lange Monate in den Lagern für sogenannte Displaced Persons. Die Zeit verstrich nicht ungenutzt: Auch dort forschten und publizierten Überlebende zum Holocaust, hielten Gedenkgottesdienste ab oder errichteten Denkmäler für die in der alten Heimat Ermordeten. Diese erste Beschäftigung auf deutschem Boden mit dem Völkermord endete noch in den 1940er-Jahren, als fast alle Überlebenden auswanderten. In Israel, wo sich spätestens nach der Staatsgründung 1948 binnen kurzer Frist auch zahlreiche jüdische Forscherinnen und Forscher aus Polen und anderen Ländern Osteuropas niederließen, ermöglichte dies die Gründung von Institutionen wie dem Ghetto Fighters’ House oder der staatlichen Gedenkstätte Yad Vashem.

In Frankreich entstand unter Führung von Isaac Schneersohn und mit Unterstützung von Léon Poliakov das Centre de documentation Juive Contemporaine, in Italien unter Leitung Adolfo Vitales das Centro di Documentazione Ebraica. Ähnliche Institute existieren bis heute in einigen europäischen Ländern. Andere Einrichtungen wie das Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO) in New York wurden mit Beständen gegründet, die 1940 in letzter Sekunde aus Wilna/Vilnius in Sicherheit gebracht werden konnten und heute als Archiv einer untergegangenen Welt und Sprache – nämlich des Jiddischen – dienen.

Die wesentliche Gemeinsamkeit dieser Pionierinnen und Pioniere des Holocaust ist ihre jüdische Herkunft. Noch bis weit in die 1960er Jahre gab es eigentlich kein wissenschaftliches Interesse von nichtjüdischen Forschern am Holocaust. Dennoch sind nicht alle der frühen Forscherinnen und Forscher Überlebende der Shoah. Gerhart Riegner etwa stammte zwar aus Deutschland, hatte das Land aber schon 1933 – nachdem ihn seine Kommilitonen aus einem Fenster der Berliner Universität gestoßen hatten – in Richtung Schweiz verlassen.

Das Engagement all dieser Pionierinnen und Pioniere der frühen Beschäftigung mit dem Holocaust lässt sich nicht in exakt abgegrenzte Tätigkeitsfelder einordnen. Die Erforschung diente immer auch der Erinnerung: Wer erinnern wollte, musste sich Wissen aneignen und trug sich meist auch mit dem Gedanken der Dokumentation des Vergangenen. Strafverfolgung oder Prävention waren ohne akribische Beweissammlung nicht möglich. Viele dieser frühen Forscherinnen und Forscher waren daher auch als Experten für die Justiz tätig – vom Nürnberger Militärgerichtshof bis hin zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel. Angesichts dessen entstanden grenzüberschreitende Netzwerke. Darin waren nicht alle Akteurinnen und Akteure auf gleiche Weise eingebunden – und manche gar nicht –, aber in vielerlei Hinsicht handelte es sich um eine global community der Holocaustforschung, die ganz maßgeblich durch die Emigration der Überlebenden und deren Nachkriegsschicksale geprägt war.

Und so lässt sich keinesfalls die Theorie aufrechterhalten, dass die moderne Holocaustforschung erst in den 1970er-Jahren entstanden sei. Ganz im Gegenteil: Die erste Generation dieser Aufklärer war bereits 30 Jahre früher aktiv. Der eigene Anspruch an Wissenschaftlichkeit war hoch, interdisziplinär, methodisch fundiert und anspruchsvoll – und wurde auch eingelöst: Man arbeitete praxisorientiert sowie mit modernen sozialgeschichtlichen Ansätzen, wie das etwa die Handreichungen für Zeitzeugenbefragungen oder die Lexika zur begrifflichen Bestimmung der Tätersprache belegen, die in Polen bereits Ende 1944 entwickelt wurden. Rachel Auerbach transferierte diese Methodik von der Jüdischen Historischen Kommission in Polen nach Yad Vashem, wo sie die Abteilung für Überlebendenaussagen etablierte.

Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass all die Ergebnisse dieser bahnbrechenden Arbeit lange Zeit – zumindest außerhalb Israels oder des YIVO – in Vergessenheit gerieten und im Grunde erst im 21. Jahrhundert eine Wiederentdeckung feierten. Das lag einerseits an mangelnden Sprachkenntnissen akademischer Forscherinnen und Forscher im Westen, die jiddische oder polnische Publikationen und Quellen schlicht nicht lesen konnten oder ihnen die Relevanz absprachen. Andererseits gründete der Kontinuitätsbruch im mangelnden Interesse der Weltöffentlichkeit an den Erkenntnissen und Publikationen dieser ersten Holocaustforschung, die sich vorwiegend an ihre Erfahrungs- und Leidensgenossen gerichtet hatte. Nur wenige, wie etwa Philip Friedman in den USA, erreichten darüber hinaus eine gewisse Publizität; andere, wie der in Berlin auf Deutsch publizierende Joseph Wulf, verzweifelten an der Ignoranz ihrer Adressaten. Wulf wählte sogar den Freitod. Einige mussten sich von der etablierten Zeitgeschichtsforschung vorwerfen lassen, dass ihnen als „Betroffenen“ die nötige Distanz zu ihrem Forschungsgegenstand fehle. Auch die Forschung auf der Basis von Opferquellen und subjektiven Überlieferungen erschien suspekt und wenig aussagekräftig.

Die erste Generation der Holocaustforschung hatte auch nach dem Holocaust oft mit Rückschlägen, Ignoranz, Ablehnung und Leugnung zu kämpfen; und sogar nach 1945 war sie nicht selten Gewalt und staatlichem Druck ausgesetzt – die vielfachen Fluchten und Migrationen dieser Überlebenden berichten davon. So sind ihre Biografien zugleich eine Verpflichtung: Ihre Errungenschaften auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiet bedürfen heute mehr denn je der Verteidigung gegen diejenigen, die sie anzweifeln und offen infrage stellen.

Diese Verpflichtung gilt bis heute: Der Toten – und der Taten – zu gedenken. Es ist eine Verpflichtung, der sich die Studentinnen und Studenten an der Touro University Berlin stellten, die diese Ausstellung gemacht haben. Sie studieren „Holocaust Studies“ an einer privaten, jüdischen Hochschule, die keine staatlichen Zuschüsse erhält. Es ist der einzige Studiengang in Deutschland, der dem Holocaust gewidmet ist. Wir sind deshalb froh, Partner wie die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz zu haben, die unsere Anliegen teilen.

Gemeinsam präsentieren wir ihnen heute im Erinnerungsort Topf & Söhne eine Ausstellung, die den Pionierinnen und Pionieren der Holocaustforschung gewidmet ist.

Wir sind heute in der Lage, den Völkermord an den europäischen Juden erforschen und an die deutschen Verbrechen erinnern zu können. Eigentlich ein gesellschaftlicher Konsens. Eigentlich. Aber leider nicht selbstverständlich, denn Gedenken und Forschung werden immer wieder in Frage gestellt. Außerdem gibt es auch 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz noch unendlich viel zu tun. Und ja: Unwissen und Nicht-Wissen-Wollen nehmen zu. Die Ignoranz, die bereits der ersten Generation der Holocaustforschung – und mit ihnen den Überlebenden – entgegenschlug, wächst wieder. Das ist für uns eine Verpflichtung: Wir können und wir werden das nicht akzeptieren! Nach wie vor gilt für uns die zentrale Herausforderung des Genozids an den europäischen Juden, die Rachel Auerbach bereits 1946 formulierte: „Die Welt ist im Begriff, mit dem Vergessen von mehr als einem Ereignis zu beginnen. Daher ist es höchste Zeit, dass sie Geschichten wie diese ein wenig besser kennenlernt.“

Das Vermächtnis der in dieser Ausstellung gezeigten Frauen und Männer, dieser Überlebenden und Helden, ist ein stetiger Ansporn. Es ist ihre Leistung, die unsere heutige Arbeit erst möglich macht. Wenn sie damals nicht mit der Dokumentation, mit der Erforschung und dem Bewahren begonnen hätten, wenn sie nicht Quellen gesichert und Berichte verfasst hätten, gäbe es weder die moderne Holocaust-Forschung noch überhaupt das Gedenken an dieses deutsche Menschheitsverbrechen.“

Wir stehen auf den Schultern von Riesen.

Diese Ausstellung dokumentiert einen kleinen Teil ihrer Erfolge. Sie ist auch eine Verneigung vor ihnen. Aber das sollten Sie sich jetzt endlich selbst ansehen.