Thüringer Allgemeine: „Zone of Interest“: Das Böse der Banalität
von Adrian Lächele
Bedrückt und etwas ratlos war die Stimmung, als der Abspann des Films „Zone of Interest“ am Sonntagnachmittag über die Leinwand des Erfurter Kinoklubs flimmerte. Ein Gefühl, das viele kennen, die seit dem Kinostart vor zwei Wochen eines der heiß begehrten Tickets ergattern konnten. In der Nacht zu Montag wurde der Film mit einem Oscar für den besten internationalen Film prämiert.
Der Film des britischen Regisseurs Jonathan Glazer erzählt vom Alltag des Ehepaars Höß. Rudolf (Christian Friedel), Hedwig (Sandra Hüller) und die fünf Kinder wohnen in einer schönen Villa mit idyllischem Garten. Wenn Familienvater Rudolf Höß über den Zaun blickt, ist dort das Konzentrationslager Auschwitz. Er ist dessen Kommandant.
Glazers Film zeigt keine Gewalt und kein Opfer. Durch den Ton ist das, was an diesem Ort geschehen ist, dennoch ständig präsent. Wer zusieht merkt schnell: Die Familie ignoriert Unvorstellbares, um ihren kleinen idyllischen Alltag zu genießen. „Ich habe selbst einen Garten, in den ich gerne schaue“, erzählt eine Zuschauerin im Kinoklub. Sie blicke nun ganz anders darauf. Es sind ebenjene Anknüpfungspunkte in unser aller Alltag, die Glazers Film seine Wirkung verleihen – bedrückend und im schlimmsten Sinne faszinierend zugleich.
Kontroverse Diskussion im Anschluss
Am Sonntag gab es die Möglichkeit, diesen persönlichen Gedanken zum Film im Nachgang einen Raum zu bieten. Auf der vom Erfurter Erinnerungsort Topf & Söhne verantworteten Podiumsdiskussion sprachen Annegret Schüle, Oberkuratorin am Erinnerungsort, Axel Doßmann, Historiker an der Uni Jena und Patrick Rössler, Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Uni Erfurt über ihre Sichtweisen auf den Film.
Als anregend kontrovers angelegt erwies sich das Podium gleich zu Beginn, als Moderatorin Suntje Brumme, wissenschaftliche Volontärin am Erinnerungsort Topf & Söhne, von den Experten wissen wollte, wie und ob der Film Aufklärungsarbeit über den Holocaust leiste.
Schüle sieht in Glazers Werk zwar „große Filmkunst“, allerdings keine umfängliche Aufklärungsarbeit. Der Film fokussiere sich dafür zu stark auf die Tätergeschichte. Auch für den Medienwissenschaftler Rössler ist der explizite Judenhass „zu stark runtergedimmt.“ Es sei fahrlässig die Opferperspektive nur anzudeuten, meint er.
Genau diese „Unfähigkeit zur Vorstellung, wie es aus Opfersicht ist“, stellt für Doßmann aber die zentrale Funktion des Filmes dar. Denn das Mitwirken vieler Tausender am Massenverbrechen des Holocaust ließe sich nur so erklären. Außerdem dürfe Glazer Wissen über den Holocaust voraussetzen: „Kein Film über den Holocaust muss im Jahre 2024 bei null anfangen“, sagt der Historiker: „Wenn im Film beispielsweise über, Ladungen‘ gesprochen wird, die in den Öfen vernichtet werden, dann merkt man doch, dass dieser Höß keine Strumpffabrik leitet“, macht Doßmann deutlich.
Zentraler Bestandteil für die Erinnerungsarbeit am Erfurter Gedenkort Topf & Söhne sei das Verständnis, dass der Holocaust ein Menschenwerk war, erläutert Schüle. Eine „technische Lösung“ für die Massenvernichtung europäischer Juden zu finden, sei für die Erfurter Ingenieure eine starke, persönliche Triebfeder gewesen.
Szenen und Orte im Film historisch ungenau
Ab 1939 entwickelte und vertrieb das Erfurter Unternehmen Topf & Söhne Leichenverbrennungsöfen an die SS. Im Wissen um den Massenmord mit Gas in Auschwitz reichte die Firma wenige Jahre später einen Patentantrag für einen „kontinuierlich arbeitenden Leichenverbrennungsofen für den Massenbetrieb“ ein.
Eine zentrale Szene im Film ist die Vorstellung der Funktionsweise dieser Öfen durch die Ingenieure Kurt Prüfer und Fritz Sander in der Auschwitzer Villa von Rudolf Höß. „Allerdings war Sander selbst nie dort“, klärt Schüle auf. Auch der genaue Standort der Krematorien sei nicht akkurat dargestellt. „Das Filmteam hat uns nicht zur wissenschaftlichen Beratung angefragt“, erzählt die Leiterin des Erinnerungsortes Topf & Söhne. Diese historischen Ungenauigkeiten seien allerdings verzeihbar. Das Werk Glazers sei für sie eben „große Filmkunst“ und keine historische Dokumentation.
„Zone of Interest“ im Klassenzimmer?
Zum Ende fragt Moderatorin Brumme die Experten, ob der Film in der Bildungsarbeit mit Schülern eingesetzt werden könne. Schüle könne sich das gut vorstellen. Allerdings sei der Film nicht voraussetzungsfrei und der Einsatz im Unterricht daher immer abhängig von Alter und Stufe. Rössler ergänzt: „Durch die besondere Kameraarbeit Glazers geht der Film an den Sehgewohnheiten vieler junger Menschen vorbei.“ Es sei „eine Idiotie zu denken, dass Erwachsene sich auskennen würden“ und sich die Bildungsarbeit deswegen allein an die Jugend richten müsse, kritisiert Historiker Doßmann. Die hohen Umfragewerte der AfD machten für ihn Erwachsenbildung ebenso notwendig.
In Abgrenzung zu Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ beschreibt Rössler Glazers Film als die Darstellung „des Bösen der Banalität.“ Eine Beschreibung, der alle Diskutanten zustimmen können: Wenn beispielsweise die Asche der Leichen beim Baden im Fluss heruntertreibe, oder die Kinder abends im Bett mit den Zähnen der Ermordeten spielten, werde einem bewusst, was nebenan passiere. „Es sind diese vielen, kleinen Sätze und Momente, die dem Film starke Wirkung verleihen“, sagt Schüle.
Zum Abschluss der Diskussion und mit Blick auf das bevorstehende Wahljahr verdeutlicht sie: „Besonders in dieser Zeit ist jede Auseinandersetzung mit dem Thema relevant.“ Die AfD stehe für eine Rückkehr des Herrenmenschentums: „Sie will andere abwerten, kriminalisieren und deportieren“, so Schüle.
Vorstellungen im Kinoklub bis April ausverkauft
Bis April sind alle Vorstellungen des Films im Kinoklub am Hirschlachufer ausverkauft. Für Ronald Troué vom Kinoklub hänge das vor allem mit der Presse rund um die Oscar-Verleihung zusammen. „Es gibt ein großes Bedürfnis zu sehen, wie ungewöhnlich dieser Film ist“, meint Troué. Im Erfurter Kino „CineStar“ sind noch Tickets erhältlich.