Thüringer Allgemeine: Eine Stadt, fremd und vertraut
von Elena Rauch
Erfurt. Als Orit Shaer am Mittwoch mit ihrem Sohn Daniel in Erfurt aus dem Zug stieg, dachte sie: Von hier aus hatte die Reise ihrer Großmutter vor 85 Jahren begonnen. Die Auswanderung nach Palästina, in ein fremdes Land, ohne die Eltern. Sie war damals 16, keine zwei Jahre älter als Daniel.
Orit Shaer ist eine Enkelin von Marion Feiner, der späteren Miriam Ziv, deren Tagebuch und eine Ausstellung derzeit am Erinnerungsort Topf & Söhne vom Alltag einer jüdischen Familie im Schatten der NS-Herrschaft erzählt. Deshalb sind sie gekommen. Das Tagebuch ihrer Großmutter, eine Leihgabe der Gedenkstätte Yad Vashem, sieht sie hier zu ersten Mal. Natürlich kennt sie ihre Erinnerung, Miriam Ziv hatte über ihr Leben in Erfurt oft gesprochen. Aber jetzt hier davor zu stehen, ihre Handschrift zu sehen, das sei, sagt die Enkelin, so persönlich, so berührend.
Das wird sie in der nächsten Stunde mehrfach wiederholen, in der Kuratorin Annegret Schüle Orit und Daniel Shaer durch die Ausstellung führt. Ein Gang durch eine Geschichte, die ihre Familiengeschichte ist. Vor den Porträts ihrer Urgroßeltern, die in der Shoa starben, bleibt sie lange stehen. Erzählt, wie ihre Großmutter, die Küchenarbeit nie mochte, den Kuchen ihrer Mutter für die Kinder und Enkel buk. Als wollte sie die Wärme ihrer Eltern der Familie weitergeben.
Orit Shaer ist IT-Expertin, sie lehrt an einer Hochschule in Boston, dort lebt die Familie. Ihre Arbeit führt sie oft nach Deutschland. Wenn sie in einer fremden Stadt ist, besucht sie die Stätten jüdischen Lebens, das vernichtet wurde. Und dann sind da die deutschen Partner, ihre Offenheit und Gastfreundschaft, das Deutschland der Gegenwart. Das müsse sie immer wieder für sich zusammenfügen, sagt sie. Auf andere Weise erging es ihrer Großmutter wohl ähnlich. Sie hing ein Leben lang an der Stadt, die sie ausschloss, und die ihre Eltern in den Tod vertrieb.
Es ist ihr zweiter Besuch in Erfurt, 2018 war sie zum ersten Mal hier. Wie fühlt sich das an, durch eine unbekannte Stadt zu gehen, die auch ihre hätte sein können? Fremd und auf merkwürdige Weise vertraut, sagt sie. Flutgraben und Gera erinnerten sie an den Fluss, der durch den Kibbuz ihrer Großmutter fließt, die Dächer der Häuser dort, die sie wohl nach Erinnerungen bauten.
In der Schau über seine Urgroßmutter erkenne er wieder, womit auch er aufwachse. Die Liebe zum Sport, den Wert von Gemeinschaft. Er verstehe besser, warum seine Familie wurde, was sie ist. Seine Großmutter war stark, hat sich behauptet, ein neues Land aufgebaut, sagt ihr Urenkel. Sie war kein Opfer.
Miriams Tagebuch: Öffentliche Führungen durch die Ausstellung am Gedenkort gibt es ab Juli jeden zweiten Sonntag um 15 Uhr.