Thüringer Allgemeine: Die Spurensuche
von Elena Rauch
Erfurt. Krieg. Mit diesem Wort beginnt und endet der letzte Eintrag in ihrem Tagebuch. Es ist der 14. September 1939 und Marion Feiner lebt da schon anderthalb Jahre in Palästina und nennt sich Miriam. Sie blickt noch einmal auf ihre Jahre in Erfurt zurück, wohin die Familie aus Berlin zog, als sie sechs Jahre alt war. Schreibt von der Liebe ihrer Eltern, dem Unglück des Vaters, dem sie als Juden Beruf und Existenz nahmen, vom Abschied, als sie auf dem Bahnhof von Erfurt als 16-Jährige zur Jugend-Alija aufbrach, der Auswanderung jüdischer Jugendlicher nach Palästina. Und sie sorgt sich um die Eltern, die im Herbst 1938 nach Polen ausgewiesen wurden, ohne Existenz, ohne Arbeit.
Als sie im Kibbuz Ginegar nach diesem letzten Eintrag ihr Tagebuch schließt, weiß sie noch nicht, dass es das erhoffte Wiedersehen mit Mutter und Vater in Palästina nie geben wird. Die Spur ihrer Eltern verliert sich im März 1941 im Ghetto von Lemberg. Jahrzehnte später übergibt ihre Tochter Dalia Ziv das Tagebuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Im Januar kehrte es nach Deutschland zurück. „Sechzehn Objekte. Siebzig Jahre Yad Vashem“ ist eine sehr besondere Ausstellung. Ein Chanukka-Leuchter aus Kiel, ein Klavier aus Chemnitz, ein Stethoskop aus Berlin, das Tagebuch aus Erfurt … 16 Objekte aus dem Bestand der Gedenkstätte, deren Herkunft den 16 Bundesländern zugeordnet ist. Deren jüdische Besitzer einst Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen waren. Selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, bis die Gesellschaft dieses Selbstverständnis brutal aufkündigte und sich damit auch einen Teil ihrer eigenen Identität nahm. Auch davon erzählen diese Gegenstände, vor allem aber, bemerkt Ruth Ur, Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem, der sich für die Ausstellung starkgemacht hatte, können sie Impuls sein, diesen Leerstellen in der eigenen Geschichte nachzugehen.
Genau das macht nun eine Sonderausstellung am Erfurter Erinnerungsort Topf und Söhne. Eine Spurensuche, die das Schicksal der jüdischen Familie Feiner aus Erfurt ausleuchtet und damit auch die Atmosphäre der Stadt in jenen Jahren, weil der Alltag der Familie ein Teil des Alltags dieser Stadt war.
Ein Foto zeigt den Aufmarsch der Hitlerjugend im Zentrum der Stadt, auf einem anderen sieht man Miriam inmitten ihres Schwimmteams im Erfurter Nordbad. Zwischen diesen Polen erlebt die Teenagerin ihre frühen Jugendjahre. Mit all den Sehnsüchten, dem Lebenshunger, den Alltäglichkeiten, Freundinnengesprächen, die zu diesem Alter gehören. Sie schreibt vom Eislaufen im Winter, Ausflügen in den Thüringer Wald, abendlichen Feiern, von ihrer Liebe zum Schwimmen … Streckenweise vergisst man bei der Lektüre die Schatten, die über der Familie liegen. Leben, wie andere auch.
Dieses Tagebuch, sagt Kuratorin Annegret Schüle, sei auch ein Zeugnis vom Selbstbehauptungswillen einer jüdischen Familie. Miriams Vater Joseph Feiner war Generalvertreter für musikalische Aufführungsrechte in der Region, bis er 1933 seine Stellung verlor. Ein Verlust an Arbeit und gesellschaftlichem Stand, der sein Leben verschattete, auch davon schreibt sie in ihrem Tagebuch.
Es sei, erzählt Ruth Ur, eine Seltenheit, dass die Gedenkstätte Yad Vashem so viele Leihgaben aus dem Haus gibt, zumal, wenn sie nach Deutschland gehen. Und die Bedenken waren nicht nur konservatorischen Gründen geschuldet. Neben Kiel sei Erfurt nun der erste Ort dieser 16 Zeugnisse, die das Anliegen dieses Projekts so tief und berührend ausgelotet habe.
Miriams Familie in Israel, erinnert sich Annegret Schüle, habe sich schnell bereit erklärt, bei den Recherchen und mit Familienfotos die Ausstellung zu unterstützen. Familienfotos stammen von ihr, die abgebildeten Postkarten, die Miriams Eltern aus Polen nach Palästina schickten, verdankt der Erinnerungsort der Hilfe von Yad Vashem. Eine Ausstellung von Nachhaltigkeit. Nicht nur, weil sie auch neue Facetten der Stadtgeschichte beleuchtet. Das Tagebuch wurde digital so bearbeitet, dass Besucher auf Tablets darin blättern und lesen können. Darunter Besucher, die so alt sind, wie die Verfasserin damals. Das schafft eine besondere Nähe. Topf und Söhne ist auch ein Ort, an dem Haltungen entstehen.
Der ein Ort der Täter war, der Mitwisser, Mitläufer. Nur wenige Straßen von jener Wohnung entfernt, wo Miriam an ihrem 14. Geburtstag am 10. Dezember 1935 die ersten Sätze in ihr Tagebuch schrieb.
Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner: 4. Mai 2023 bis 24. Mai 2024, Topf und Söhne, Sorbenweg 7, Erfurt. Infos: www.topfundsoehne.de