Thüringer Allgemeine: „Ich wollte leben“

14.02.2025 06:00

Leon Weintraub wurde als Jugendlicher nach Auschwitz verschleppt. Mit Schülern spricht er über seinen Leidensweg durch die Hölle

Überlebender von Auschwitz redet mit Schülerinnen und Schülern

Gespräch in Erfurt

Er stützt sich auf einen Stock, das Gehen fällt ihm schwer, im Januar wurde er 99 Jahre alt. Dies ist ein schmerzlicher Ort. Das ist einer der ersten Sätze, die er sagt. Seine Mutter und seine Tante wurden in Auschwitz ermordet. Und hier wurden sie gebaut, die Öfen von Auschwitz.

Er ist trotzdem gekommen. Weil Vergessen hieße, die Ermordeten noch einmal zu töten. Und weil es heute Menschen gibt, die der Ideologie ihrer Mörder folgen und sich dabei als Patrioten gebärden. So sagt er es.

Einer der letzten Zeitzeugen am Erfurter Erinnerungsort

Im Raum am Erfurter Erinnerungsort Topf & Söhne ist kein Stuhl frei, die Schüler kommen aus Jena, Apolda, Erfurt. Der Mann auf dem Podium vor ihnen heißt Leon Weintraub. Er wurde in Łódź geboren, überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Groß-Rosen, Flossenbürg und Natzweiler-Struthof, wurde nach seiner Befreiung Arzt und lebt seit vielen Jahren in Schweden. Er gehört zu den letzten Menschen, die Zeugnis ablegen können.

Wenige Tage nach dieser Begegnung wird er einen offenen Brief an den Kanzlerkandidaten Friedrich Merz (CDU) schreiben. Eine Kritik an dessen Taktieren beim Versuch, mit Stimmen der AfD ein verschärftes Migrationsgesetz durchzubringen, eine Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Polarisierung in der Gesellschaft. „Bitte hören Sie nicht auf die Lockrufe der Rechten …“ Wenn man verstehen will, warum er diesen Brief schrieb, muss man seiner Geschichte zuhören.

Vor ihm liegen Manuskriptblätter. „Die Versöhnung mit dem Bösen“ hat er sein Erinnerungsbuch genannt. Kein Vergeben, kein Vergessen, das ist ein Unterschied.

Er erzählt von seiner Kindheit in Łódź, in armen Verhältnissen, aber voller Wärme. Von der euphorischen Freude auf die Zukunft, als er, der Sohn einer Witwe, einen Platz am Gymnasium bekam. Vom bedrohlichen Stampfen der Stiefel auf dem Pflaster, als die Wehrmacht im September 1939 in die Stadt einmarschierte. Das Geräusch kann er bis heute nicht vergessen. Ein Menetekel für das, was folgte.

Vom Schweigen der Menschen auf dem Weg nach Auschwitz

Als seine Familie in das Ghetto von Łódź ziehen musste, war er 13 Jahre alt. Statt ins Gymnasium zu gehen, arbeitete er in einer Werkstatt, lernte den Umgang mit Stromleitungen. Schwere Arbeit, aber solange sie den Deutschen nutzen, könnten sie überleben. So dachten sie damals. Dann der erste Abschied. Während sie inmitten der chaotischen Auflösung des Ghettos auf die Deportation warteten, versuchte seine Schwester Roza unterzutauchen. Er sah sie nie wieder.

Er spricht vom Schweigen im Güterwaggon, in den sie ihn und seine Familie sperrten. Zusammengepferchte Menschen, kein Platz, um sich zu setzen, kein Wasser, kein Essen, der Gestank der Notdurft. Aber all das ist in seiner Erinnerung überlagert von der Stille. Vom Schweigen, in dem alles lag. Der Unglaube, das Entsetzen, die Angst. Wohin bringen sie uns?

Dann das Brüllen der Wachleute. Raus, raus! Die merkwürdigen Schattengestalten in den gestreiften Anzügen. Auschwitz. Den Namen des Ortes hat er erst später erfahren. Und was er bedeutete, auch. Er sah die Zäune aus Stacheldraht mit den Porzellanisolatoren und begriff, dass sie Strom führten. Der SS-Mann an der Rampe ging die Reihen durch. Daumen nach rechts, bedeutete arbeitsfähig. Nach links, das Gas. Aber auch das wussten sie damals noch nicht.

Der letzte Blick zur Mutter an der Rampe

Sein letzter Blick auf die Mutter, ihre weiße Bluse und das dunkelblaue Kostüm, dass sie trug. Er winkte ihr im Durcheinander noch zu. Wir sehen uns dann drinnen! Nach dem Krieg erfuhr er von seinen Schwestern, dass auch die Mutter nach rechts gewiesen wurde, ihre Schwester nicht. Sie klammerte sich an die Hand seiner Mutter. Sie ging mit ihr.

Er spricht vom schwarzen schweren Rauch aus den Schornsteinen, dem Gestank, von dem er wusste, was er bedeutet. Man hört, fühlt und sieht zwar noch, aber die höheren Gehirnfunktionen sind ausgeschaltet, man ist kaum in der Lage, zu denken: So beschreibt er seinen Zustand in Auschwitz. Die Seele schützt sich vor dem Begreifen. Vielleicht, sagt er, hat er es nur so ausgehalten.

Und vielleicht war er auch deshalb imstande, in wenigen Sekunden diesen wahnwitzigen Entschluss zu fassen, als er zwischen den Baracken eine Gruppe nackter Häftlinge sah. Sie warteten auf Kleidung, man würde sie zur Arbeit wegfahren, hatten sie ihm gesagt. Er warf seinen Häftlingsanzug von sich und stellte sich in ihre Reihe. So entkam er Auschwitz.

Als sie aus dem Lager geführt wurden, sah er im Elektrozaun eine tote Frau. Das war das letzte Bild, das er aus Auschwitz mitnahm.

Er musste ansehen, wie Häftlinge hingerichtet wurden

Die SS-Leute trieben ihn von Arbeitslager zu Arbeitslager. Er erzählt von den zwei Häftlingen, die fliehen wollten und die die SS-Wachen vor ihren Augen hinrichteten. Die sie, als die morschen Stricke am Galgen rissen, ein zweites Mal hängten. Spricht von den 25 Schlägen mit einem mit Sand gefüllten Gummischlauch, mit dem sie ihn für einen Riss in seiner Kleidung bestraften. Er versuchte sie zu zählen, nach dem achten Schlag verlor er das Bewusstsein.

Er war so oft dem Tod näher als dem Leben. Aber das Leben war stärker. Er studierte nach seiner Befreiung Medizin, wurde Arzt, erst in Polen, dann in Schweden, wohin er nach der antisemitischen Kampagne 1968 ausreiste. Viele Jahre arbeitete er als Gynäkologe. Er, über dessen Jugend der Tod hing, half in Geburtsstationen neuem Leben auf die Welt. Bei seinem ersten Schrei ist die Welt für einen Menschen frei von Hass, sagt er.

Leon Weintraub legt die Blätter zur Seite, blickt in die Gesichter der Schüler, die so alt sind, wie er damals war. Fragen Sie, sagt er in die Stille hinein.

Und sie fragen. Wie er es schaffte, dieses Grauen auszuhalten. Ich wollte leben, sagt er. Was er empfand, als er nach dem Krieg in Göttingen studierte, im Land der Täter. Wie er damit umging, als viele sagten, sie hätten nichts gewusst.

Er nimmt sich Zeit für die Fragen der Thüringer Schüler

Man spürt, der Vortrag hat ihn angestrengt, aber er nimmt sich Zeit für jede Antwort. Als ihn eine Schülerin fragt, ob man in deutschen Familien nicht mehr über die eigene Geschichte sprechen sollte, antwortet er: Ihr seid nicht schuld am Geschehen. Aber die Erinnerung daran müsst Ihr bewahren. Und wissen, dass der Weg zu den Gaskammern von Auschwitz begann, als sich Menschen über andere Menschen stellten. Nicht wegsehen, nicht schweigen. Das gibt er den Schülern auf den Weg.

 

von Elena Rauch