Freies Wort: Ein Ort zum Nachdenken - gerade für junge Menschen
von Sebastian Haak
zuerst veröffentlicht im Freien Wort am 13. November 2024
ERFURT/HILDBURGHAUSEN. An den 29. Juni 2020 kann sich Gabriele Wölke-Rebhan noch ziemlich genau erinnern. Daran, wie ungerührt die Menschen damals an ihr und den anderen etwa zwanzig Frauen vorbeigegangen waren, als sie im Ega-Park in Erfurt standen - und aus Büchern vorlasen, die die Nationalsozialisten dort vernichten wollten. Genau 87 Jahre zuvor hatten Nationalsozialisten und nationalsozialistisch eingestellte Deutsche nur ein paar Dutzend Meter von der Stelle, an der Wölke-Rebhan an diesem Tag stand, die Bücher von Autoren verbrannt, die dem NS-Regime „undeutsch“ erschienen. Wie an ungefähr 160 Orten überall in Deutschland landeten in der heutigen Thüringer Landeshauptstadt damals Werke unter anderem von Bert Brecht, Erich Kästner oder Erich Maria Remarque im Feuer.
Wölke-Rebhan las Kästner. Dabei, sagt die 77-Jährige, habe „so eine ganz eigene Magie“ in der Luft gelegen. Trotz - oder vielleicht gerade wegen? - der Ignoranz der Passanten, von denen manche die Vorleserinnen wohl für ziemlich durchgeknallt hielten. Wölke-Rebhan und die anderen der Gruppe, die sich „Omas gegen Rechts“ nennt, spornte das damals noch an. Immerhin seien alte Frauen oft stur und auch unbequem, gar nervig, betont Wölke-Rebhan nun gleich mehrfach. Dann fuhren die Omas mit der Straßenbahn zurück in Richtung Stadtzentrum - und beschlossen, dass sie sich für die Schaffung eines Erinnerungsorts an diese nationalsozialistische Schandtat einsetzen wollen. „Wir haben damals an einen Wegweiser oder so was gedacht“, sagt Wölke-Rebhan.
Denkort statt Erinnerungsort
Vier Jahre später steht Wölke-Rebhan nun wieder auf der Ega, im dichten und kalten Novembernebel, dieses Mal an genau dem historischen Ort, an dem die Bücher vor inzwischen 91 Jahren wirklich ins Feuer geworfen wurden. Ein Wegweiser ist nicht da. Dafür viel mehr: mehrere lautsprecherartige Kegelformen, ein Schriftzug im Boden, eine Informationstafel und QR-Codes, die in eine Welt jenseits dieses Ortes reichen. „Wir erkennen hier das, was wir uns gewünscht haben, auch wenn wir damals gar nicht wussten, wie das aussehen würde“, sagt Wölke-Rebhan. Dass dieser Erinnerungsort nun eingeweiht wird, soll nach ihrem Willen nicht der Abschluss dieses Projekts sein.
Gerade junge Menschen soll dieser Ort ansprechen, was ein Grund dafür ist, dass er offiziell eigentlich nicht Erinnerungsort, sondern „Denkort“ heißt - eben weil sich junge Menschen an die Zeit des Nationalsozialismus oder die Bücherverbrennungen überhaupt nicht erinnern können, immerhin waren sie in diesen Jahren überhaupt noch nicht geboren. Aber sie können darüber nachdenken, sich von diesem Ort dazu anregen lassen, sich Gedanken darüber zu machen, wie es zu dem Teil der deutschen Geschichte kommen konnte, für den die Bücherverbrennungen nur ein Vorspiel waren: die Verbrennung von Millionen Menschen, die nicht irgendwelche Nationalsozialisten, sondern nationalsozialistisch eingestellte Deutsche zuvor teilweise industriell ermordet hatten.
Weg nach Auschwitz
Daran zu erinnern, wie der deutsche Weg nach Auschwitz begann, das sei heute so nötig wie nie, sagt der Beigeordnete der Stadtverwaltung Erfurt für Kultur, Tobias Knoblich, „ganz besonders nach den Ereignissen in Hildburghausen“. Er steht neben Wölke-Rebhan im Nebel. Zwar habe es in den vergangenen Jahren immer wieder „manche“ gegeben, die sich dem Drängen der Omas gegen Rechts zur Schaffung eines Erinnerungsortes widersetzt hätten. Umso richtiger aber sei es, dass dieser Ort nun eröffnet und damit an die Öffentlichkeit übergeben werde. „Es gibt kein Erinnern, das fehl am Platz wäre“, sagt Knoblich.
In Hildburghausen hatten bislang Unbekannte am Wochenende hunderte Neonazi-Aufkleber in der ganzen Stadt geklebt, auch auf eine Tafel, auf der an die jüdischen Opfer der Pogromnacht vom 9. November 1938 erinnert wird. Der dort zum Gedenktag niedergelegte Blumenkranz wurde beschädigt.
Die Widerstände innerhalb Erfurts gegen die Errichtung des Denkorts zur Bücherverbrennung waren allerdings größer, als Knoblich das in der Rückschau vielleicht zugeben will. Selbst bei der Ega waren die Verantwortlichen zunächst nur mäßig begeistert von der Idee, prominent darauf hinzuweisen, dass in diesem Park vor Jahrzehnten Kunst- und Kulturgut vernichtet wurde. So wie damals übrigens auch in Hildburghausen, wo am 22. Mai 1933 Mitglieder von NSDAP, SA und Hitler-Jugend auf dem Marktplatz hunderte Bücher verbrannten. Zufall, aber durchaus passend, dass ausgerechnet Hildburghausen dieses Jahr Schauplatz der zentralen Gedenkveranstaltung Thüringens zum Volkstrauertag am Sonntag sein wird, wo unter anderem der Ministerpräsident unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ reden soll.
„So, wie wir das hier im Kleinen praktiziert haben, so sollte es in der Gesellschaft im Gesamten passieren.“ Gabriele Wölke-Rebhan
Als Meinungsverschiedenheit stellen Verantwortliche der Ega die einstigen Widerstände heute dar. Wölke-Rebhan will auf das Zögern, die Einwände, die Vorbehalte nun gar nicht mehr näher eingehen, sondern lieber betonen, dass die unterschiedlichen Sichtweisen infolge jahrelanger, gemeinsamer Arbeit überwunden worden seien. „So, wie wir das hier im Kleinen praktiziert haben, so sollte es in der Gesellschaft im Gesamten passieren.“ Vor allem deshalb ist sie so versöhnlich gestimmt, weil die Stadtverwaltung Erfurt ihnen mit der Leiterin des Erinnerungsorts Topf & Söhne, Annegret Schüle, für die inhaltliche Umsetzung des Erinnerungsorts, der Denkort heißt, eine ausgewiesene Fachfrau zur Begleitung des Projekts zur Seite gestellt hatten. Neben dem Widerstand in Erfurt gegen diesen Denkort gab es dort immer auch Unterstützung dafür.
Aus Sicht Schüles liegt das Besondere dieses Erinnerungsorts nicht nur in seiner Gestaltung. Die sei deshalb innovativ, weil an den meisten der bundesweit etwa zwei Dutzend vergleichbaren Orte mit der Symbolik von Feuer und Büchern gearbeitet werde - während es auf der Ega mit der Lautsprecher-Symbolik darum gehe, zu zeigen, dass die von Nationalsozialisten als „undeutsch“ eingestuften Werke und Autoren weiterhin zu den Menschen sprechen könnten. Diese Gestaltungsidee wird dadurch verstärkt, dass sich auf den Kegeln QR-Codes befinden, die zu einer Webseite mit Audiodateien führen. Zu hören sind die Aufzeichnungen von Lesungen, bei denen junge Menschen Texte von den Autoren vortragen, die die Nationalsozialisten so sehr hassten.
Von Jugendlichen für Jugendliche
Zudem, sagt Schüle, könne dieser Denkort nun besonders lebendig werden, weil im Zuge von dessen Gestaltung ein eigener Workshop zum Themenkomplex „Bücherverbrennung und Menschenfeindlichkeit“ erarbeitet worden sei, der ebenfalls über die Webseite dieses Ortes zu erreichen ist.
Von Jugendlichen für Jugendliche ist er erstellt worden, verbunden mit einer klaren Botschaft: Viele Menschen würden glauben, die Deutschen seien am Beginn der 1930er Jahre in die NS-Diktatur gezwungen worden, sagt Leonie Dellen, die den Workshop gemeinsam mit den jungen Menschen erarbeitet hat. „Am Thema Bücherverbrennung wird aber deutlich: Das war nicht der Fall“, sagt sie. Der Nationalsozialismus sei „als Zustimmungsdiktatur“ über Deutschland gekommen. Und die Bücherverbrennungen hätten vorweggenommen und früh gezeigt, wohin die breit getragene Zustimmung zum Nationalsozialismus in diesen Jahren führen werde. „Die ganzen Feindbilder der Nationalsozialisten waren da eigentlich schon abgebildet“, sagt Dellen.
Ort mit Leben füllen
Wölke-Rebhan möchte, dass diese Botschaft, diese Einsicht von nun an von diesem Denkort aus in möglichst große Teile Thüringens und Deutschlands ausstrahlt. Von dort aus, wo sie vor etwa vier Jahren selbst aus angeblich „undeutscher“ Literatur gelesen hat. Dass das auch den weiteren Einsatz fordern wird, das weiß sie. „Es gilt nun, diesen Ort mit Leben zu erfüllen“, sagt sie. Es klingt, als wolle sie sich die Ärmel hochkrempeln, worauf sie bestimmt nur wegen des Wetter in diesem Moment verzichtet.