Freies Wort: Die Erinnerung lebt weiter
von Sebastian Haak
zuerst veröffentlicht im Freien Wort am 15. September 2021
Es muss von außerhalb der Brille ziemlich eigenartig – um nicht zu schreiben unbeholfen, tollpatschig, orientierungslos – aussehen, wie man vor dem Toraschrein wandelt. Mitten hindurch durch die Reihen von Bänken, auf denen Gebetsbücher liegen. Einen Schritt nach links, bloß nicht an eine der Bänke stoßen, die von außerhalb gar nicht zu sehen sind. Den Kopf nach links und rechts und oben und unten neigend, um all die Details in sich aufnehmen zu können, die sich den eigenen Augen bieten, die aber von außerhalb ebenfalls nicht einmal zu erahnen sind: die liebevoll gestalteten Kerzenhalter, die kräftig rosafarbenen, verzierten Wände, die Torarolle, die geöffnet auf dem Schrein liegt.
Doch es ist egal, wie es von außen wirkt. Weil es von innen großartig aussieht. Und weil es einen neuen Zugang zu Geschichte im Allgemeinen bietet; sowie im Speziellen zu etwas, das tatsächlich unwiederbringlich verloren ist – und noch mehr verloren gehen wird, wenn nun die letzten Zeitzeugen des größten Menschheitsverbrechens aller Zeiten sterben.
Gäbe es dieses Brille und das viel größere Projekt dahinter nicht, es wäre heute unmöglich, durch die Große Synagoge von Erfurt zu wandeln. Das Gotteshaus war 1884 geweiht worden, lag am Rande der heutigen Innenstadt Erfurts und bot etwa 500 Menschen Platz. Nach Einschätzung von Historikern war der Bau dieser Synagoge Ende des 19. Jahrhunderts ein Meilenstein für das jüdische Leben in ganz Deutschland. Er war ebenso Ausdruck der zunehmenden politischen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland.
Dieser Aufbruch in eine neue, scheinbar bessere Zeit währte in Erfurt ebenso wie in anderen Teilen Deutschlands und Europas bekanntermaßen nur wenige Jahrzehnte. Schon etwa ein halbes Jahrhundert nach seiner Einweihung wurde dieses jüdische Gotteshaus zerstört. Wie mehr als 1.400 Synagogen und Betstuben in ganz Deutschland wurde auch die Große Synagoge Erfurt während des Novemberpogroms von 1938 angegriffen und abgebrannt. Später wollte die Stadt Erfurt von der jüdischen Gemeinde sogar noch die Kosten für die zwei Kanister Benzin erstattet haben, die zum Anzünden der Synagoge benutzt worden waren. Aber den Nazis ist es nicht gelungen, die Erinnerung an dieses Gotteshaus gänzlich zu zerstören.
Und mehr noch: Nachdem ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen etwa ein Jahr lang an der virtuellen Rekonstruktion der Synagoge gearbeitet hat, lässt sich dieser Ort heute sogar wieder besuchen, betreten, erleben, gar sinnlich erfahren. „Das hat“, sagt die Leiterin dieses Teams, Annegret Schüle, „noch einmal eine ganz andere Qualität, als wenn ich Fotos der Synagoge anschaue oder davon in einem Geschichtsbuch lese.“ Wer jeden Teil und jeden Winkel der Synagoge und ihres Umfeldes erkundet, könne leicht eine Stunde „in der Brille“ zubringen. Schüle arbeitet als Leiterin des Erinnerungsorts "Erinnerungsort Topf & Söhne" in Erfurt und ist gleichzeitig Oberkuratorin der Geschichtsmuseen der Landeshauptstadt.
Die Brille, die das Tor zu dieser Erlebniswelt ist, ist eine sogenannte VR-Brille. VR wie Virtual Reality, also Virtuelle Realität. Sie ist deutlich größer als eine normale Brille und wird ähnlich wie eine übergroße Skibrille über den Kopf all derer gezogen, die die Synagoge besuchen wollen. Wer sie vor den Augen hat, vergisst beinahe sofort, wo er sich tatsächlich, physisch befindet. Dass er vielleicht in einem einigermaßen leeren Raum steht. Denn die Brille projiziert vor die Augen ihres Träger eine künstliche, virtuelle Welt, in der sich Dinge sogar anfassen, bewegen und hören lassen, in der jede Bewegung des Kopfes den Blick auf einen neuen Teil dieser physisch nicht mehr existierenden und trotzdem realen Welt freigibt.
Während es von außerhalb der Brille so aussehen mag, als rudere deren Träger einigermaßen unkontrolliert mit den Armen in der Luft, kann er in der Brille sogar den Torazeiger heben und senken, einen silbernen Lesestab. Die entsprechende Technik wird seit Jahren mit einem immer größer werdenden Erfolg zum Beispiel auch in der Welt der Computerspiele eingesetzt.
Dass sich eine von den Nazis zerstörte Synagoge auf diese Weise heute wieder besuchen lässt, ist nach Angaben von Schüle bislang deutschlandweit einzigartig. Zwar gebe es noch andere, ähnliche Projekte in der Republik, sagt sie. Doch seien diese noch nicht so weit, dass sie schon der Öffentlichkeit vorgestellt werden könnten. Neben Schüle sowie einer Historikerin und einem Kommunikationswissenschaftler der Universität Erfurt haben unter anderem auch eine Bauplanerin und ein Mediengestalter der Fachhochschule Erfurt an dem Projekt mitgearbeitet – unterstützt auch von der jüdischen Landesgemeinde und ihrem Rabbiner Alexander Nachama. Von ihm, sagt Schüle, stamme auch die Idee, auf die Bänke der Synagoge Gebetsbücher zu legen. „Das war technisch ziemlich aufwändig.“ So solle die VR-Synagoge lebendiger wirken, wie ein Haus des Glaubens, das ihr reales Vorbild schließlich war.
Eigentlich hätte sich diese Lebendigkeit auch dadurch erzeugen lassen, dass die Macher dieses Projekts künstliche Menschen erschaffen hätten, die dann in der Synagoge hätten beten oder feiern können. Genau darauf aber habe man bewusst verzichtet, sagt Schüle. Denn so großartig die VR-Technik auch ist, so sehr sie gerade einem jungen, digitalaffinen Publikum einen neuen, lebendigen Zugang zur Geschichte ermöglicht, so sehr hat diese Technik auch ihre Grenzen. Vielleicht nicht so sehr technische. Aber doch ganz sicher ethische.
Insbesondere, argumentiert Schüle, sei es selbst unter Zuhilfenahme dieser Technik unmöglich, in die Gefühlswelt von Menschen einzutauchen, die vor langer Zeit gelebt haben, unter Bedingungen, die so anders sind als heute. „Wir können den Raum schaffen, in dem Geschichten passiert sind und diese Geschichten erzählen“, sagt Schüle. „Doch Gefühlswelten lassen sich durch so eine Rekonstruktion nicht nachvollziehen.“
Aus dem gleichen Grund ist Schüle auch skeptisch zu etwaigen Überlegungen, mittels der Brille heute lebenden Menschen einen unmittelbaren, virtuellen Eindruck von Orten der Vernichtung zu geben – ihnen also zum Beispiel in der Brille die Viehwagons zu zeigen, mit denen die Nazis Juden in die Vernichtungslager gefahren haben. Oder gar das Innere von Gaskammern. Niemals, sagt Schüle, werde sich für Menschen heute nachfühlen lassen, was Menschen damals durchmachen mussten; schon deshalb nicht, weil jeder, der eine VR-Brille trägt, weiß, dass er sie nur absetzen muss, um aus der künstlichen wieder in die reale Welt zu gelangen. Das heißt: Was sich mit solchen Reanimierungen oder Rekonstruktionen von Orten des Grauens erreichen ließe, wäre höchstens die Befriedigung einer voyeuristischen Lust am unsäglichen Leid anderer.
Und deshalb sind es genau diese ganz grundsätzlichen, einschränkenden Erwägungen, die auch dazu führen, dass von der Zerstörung der Synagoge in der virtuellen Welt nicht mit lodernden Flammen und hallenden Axtschlägen erzählt wird – sondern sehr klug vom Dachboden des Gebäudes aus, was auch die Gewähr dafür bietet, das die Besucher der Synagoge zunächst die Gelegenheit haben, den Bau als Teil der jüdischen Kultur zu erkunden, die durch viel mehr definiert wird als dadurch, dass die Nazis versucht haben, sie zu vernichten.
Auf diesem Dachboden – den man betritt, indem man einen neben dem Toraschrein gelegenen Aufgang hinauf wandelt – stößt man auf die Schilderungen des Synagogendieners Hermann Kormes, der dabei war, als die Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 angezündet wurde. Kormes hatte sich damals mit seiner Frau auf diesen Dachboden geflüchtet, als die Zerstörung begann. „Als wir die Treppen hinunterliefen, hörten wir, dass Leute vom Innenraum der Synagoge her die Tür zum Treppenhaus mit Äxten einschlugen“, sagte er 1963, als gegen die Brandstifter ermittelt wurde.
Als er von den Nazis in dieser Nacht in eine Turnhalle verschleppt wurde, kam er kurze Zeit später erneut an seiner Synagoge vorbei, die zu dieser Zeit bereits brannte.
Brille zum Ausleihen
Die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Erfurts ist Teil des Themenjahres „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“. Damit möglichst viele Menschen die Möglichkeit haben, dieses von den Nazis zerstörte Gotteshaus mittels VR-Brillen zu besichtigen, lässt sich die Technik an drei Standorten in der Landeshauptstadt ausleihen:
Im Showroom „360Grad Thüringen Digital Entdecken“ der Thüringer Tourismus Gesellschaft am Hauptbahnhof, Willy-Brandt-Platz 1, 99084 Erfurt.
Im Erinnerungsort Topf & Söhne, Sorbenweg 7, 99099 Erfurt.
In der Neuen Synagoge der Jüdischen Landesgemeinde, die am historischen Standort der Großen Synagoge errichtet worden ist, Max-Cars-Platz 1, 99084 Erfurt.
Die Nutzung der Brille ist kostenlos. Alle weiteren Informationen zu Öffnungszeiten der Häuser und zu Voranmeldungen im Internet unter: www.juedisches-leben-thueringen.de.