MDR-Kultur: Erfurter Ausstellung zeichnet das Verbrechen der Euthanasie nach
von Mareike Wiemann, Landeskorrespondentin Thüringen
Es ist nur ein kleiner Raum, den diese Ausstellung füllt, knapp 20 Quadratmeter, mit 14 Infotafeln und zwei Vitrinen. Doch das reicht völlig aus, um die abgrundtiefe Menschenfeindlichkeit und die tödliche Bürokratie der Nationalsozialisten pointiert hervorzuheben. Schon kurz nach der Machtergreifung 1933 kommt es zu einer ersten sogenannten rassenhygienischen Maßnahme: Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wird eingeführt, das Zwangssterilisierungen bei Menschen mit unter anderem "angeborem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch angeborenem Irrsein" erlaubt.
Es sind schwammige Begriffe wie diese, die über die Jahre immer weiter ausgelegt werden, wie die Ausstellung deutlich macht. Mit dem Kriegsbeginn setzt eine völlig neue Dynamik in Bezug auf die "Rassenhygiene" ein: "Hier spielen neben den ideologischen Motiven vor allem auch kriegsökonomische Gründe eine wichtige Rolle", so Kuratorin Lisa Caspari. "Also – wer wird im Krieg versorgt? Denn im Krieg wird die Gesellschaftshierarchie noch einmal viel krasser, als sie es zuvor schon war." Die ersten Euthanasieverbrechen finden deswegen in den besetzten Gebieten statt, im Reich selbst sind die ersten Opfer behinderte Kleinkinder und Säuglinge.
Staatlich organisierter Mord
Um alles zu koordinieren, wird die "Aktion T4" gegründet, eine Organisation, die die massenhafte Ermordung von Anstaltspatientinnen und -patienten in die Hand nimmt. Rund 300.000 Menschen werden in den kommenden Jahren unter dem Euphemismus der Euthanasie vergast und anschließend verbrannt, den Angehörigen werden Sterbeurkunden mit ausgedachten Todesursachen ausgehändigt. Weil damals viel verschleiert wurde, ist es teilweise bis heute schwierig, die genauen Todesumstände nachzuvollziehen.
Kuratorin Caspari aber wollte die Geschichten der Opfer sichtbar machen, und wühlte sich unter anderem durch Akten im Berliner Bundesarchiv und im thüringischen Landesarchiv in Gotha. "Diese Opfergruppe wurde jahrzehntelang vergessen. Und um an sie erinnern zu können, brauchen wir Namen, Geschichten und Bilder." Caspari hat verschiedene Schicksale von Menschen aus Erfurt und Umgebung für die Ausstellung aufgearbeitet, darunter das von Willi Kirmes: ein Jugendlicher, der im Alter von 16 Jahren von der "Aktion T4" ermordet wurde. Die einzige Schuld Kirmes' war es, dass er sich auflehnte gegen Autoritäten – und, dass ihm ein Elternhaus fehlte. In der Ausstellung sind ein Foto von ihm, ein selbst geschriebener Lebenslauf und eine Zeichnung zu sehen: Auf der steht ein Mensch auf einer Blumenwiese, und lässt einen Drachen steigen. Die Recherche dieser bedrückenden lokalen Geschichten ist das stärkste Kapitel der kleinen, aber gut erzählten Ausstellung.
Aktuelle Bezüge
Für Annegret Schüle, Leiterin des Erinnerungsortes, kommt die Schau genau zum rechten Zeitpunkt. Geschichtsvermittlung bedeute immer auch, die Gegenwart zu reflektieren. Und in der Corona-Pandemie komme es eben darauf an, wie sich unsere Gesellschaft in einem massiven Stresszustand den Grundsatz der Menschlichkeit bewahre. "Die Ausstellung leistet für diese Reflektion einen Beitrag, denn sie zeigt sehr eindrücklich, wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft den Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen verweigert. Und eine Unterscheidung macht zwischen Leben, das lebenswert und verteidigenswert ist, und Leben, das lebensunwert ist."
So verlässt man den kleinen Raum am Ende in der Gegenwart – und mit einer Ausstellungspostkarte in der Hand. Auf der ist Artikel 3 des Grundgesetzes abgedruckt: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."