taz am Wochenende: Mittelalter pur an der Gera
von Beate Schümann
Sie tranken und sangen, tanzten Foxtrott oder Charleston. Im Ballsaal des früheren "Döblerschen Kaffeehauses" amüsierten sich die Menschen unterm Hakenkreuz in Saus und Braus. Das Orchester spielte dazu. Was die Nationalsozialisten und Antisemiten nicht wussten: Sie feierten in einer mittelalterlichen Synagoge.
Der dekorativ bemalte Tanzsaal im ersten Stock ist als zeitgeschichtliches Dokument heute Bestandteil des Museums Alte Synagoge. Bis zur Wiederentdeckung in den 1990er Jahren war der jüdische Tempel im Herzen der Erfurter Altstadt aus dem öffentlichen Bewusstsein so gut wie verschwunden. Nach dem Pogrom 1349 wurde er erst in einen Speicher umgebaut, im 19. Jahrhundert in ein Wirtshaus mit Parkett, Empore und Kegelbahn.
"Der Fremdnutzung ist es zu verdanken, dass das Gotteshaus die Jahrhunderte und neuzeitliche Modernisierungsmaßnahmen überlebt hat", sagt Maria Stürzebecher, die das mittelalterliche jüdische Erbe für die Stadt zum Unesco-Welterbe befördern will.
Die Alte Synagoge ist über 900 Jahre alt und die älteste erhaltene aus dem Mittelalter in Europa. "Zur Zeit der Wende war sie von allen Seiten zugebaut", erinnert sich die gebürtige Erfurterin. Denkmalpfleger wussten von ihrer Existenz, kannten aber nicht die genaue Lage.
Als ein Investor das Gebäude von der Treuhand kaufen wollte, nutzte die Stadt 1998 ihr Vorkaufsrecht. Wenig später wurden bei Restaurierungsarbeiten die Rosette, gotische Fenster und Spuren von Säulen gefunden. Eine Sensation. Vom Fundament bis zum Dach war pures Mittelalter erhalten geblieben.
Im Gewölbekeller des vor zehn Jahren eröffneten Museums wartet eine weitere Sensation: der Brautschatz, der 1998 zufällig bei Bauarbeiten im Quartier gefunden wurde. "Vermutlich wurde er während des Pogroms 1349 von wohlhabenden Juden vergraben", sagt die Kunsthistorikerin, die auch Kuratorin der Alten Synagoge ist. Der gut dreißig Kilo schwere "Erfurter Schatz" ist in Vitrinen ausgestellt, hauptsächlich Silbermünzen und filigrane gotische Goldschmiedearbeiten wie Broschen, Ringe, Gürtelschließen und Gewandbesatz sowie ein Konvolut hebräischer Handschriften.
Eine Rarität ist der fein gearbeitete goldene Hochzeitsring dessen Kopf wohl den Tempel in Jerusalem darstellt. Auf den Dachflächen ist auf Hebräisch "masel tow" eingraviert – viel Glück für das Brautpaar. Wenige Schritte entfernt fließt die Gera munter unter der Krämerbrücke hindurch. Wie Schwalbennester kleben an ihr die restaurierten Fachwerkhäuser, in denen einmal Händler ihren Kram verkauften.
Heute versorgen Läden und Cafés auf dem Erfurter Wahrzeichen Besucherströme mit ausgefallenen Souvenirs und köstlichen Häppchen. Im Sommer ist der geteilte Fluss ein cooles Erfrischungsbad für heißgelaufene Füße. Steinstufen führen ins Wasser, auf denen man ausruhen und die Seele baumeln lassen kann.
Schon kommt man dem jüdischen Erbe erneut auf die Spur. Denn wo eine Synagoge, ist auch eine Mikwe, das rituelle Tauchbad. Bei den Überschwemmungen von 2006 brach hier die Ufermauer, was zu archäologischen Grabungen und zum Fund des Wasserbeckens führte. Im kleinen Park auf der Anhöhe erlaubt ein Schaukasten den Blick hinunter in Ritualbad. Aber erst bei einer Führung offenbart sich der intime Charakter des Ortes, an dem Gläubige sich nach dem Kontakt mit Tod oder Blut reinigten. Mit diesem Fund kam 2007 die Idee für den Unesco-Titel auf. Seit 2014 stehen die historischen Stätten auf der deutschen Vorschlagsliste für künftige Welterbestätten. 2021 wird der Antrag eingereicht.
Der wichtigste Bestandteil eines jüdischen Viertels ist der Friedhof, der im Mittelalter außerhalb der Stadt lag und bis Mitte des 15. Jahrhunderts genutzt wurde. Aus Mangel an Baumaterialien wurden die Grabsteine im ganzen Stadtgebiet verwendet, umgenutzt, verbaut und dadurch gerettet. "Die Überlieferung verdanken wir der Verfolgung", sagt die Beauftragte für das Unesco-Welterbe.
Das klinge paradox, so Stürzebecher. "Doch im historischen Erbe materialisieren sich Schuld und Verdienst." Ohne die Pogrome wäre das jüdische Erbe im Laufe der Zeit untergegangen, abgenutzt, zerstört und vergessen worden.
Die ältesten und schönsten mittelalterlichen Grabsteine sind heute im Schaudepot im Keller des "Steinernen Hauses" zu bestaunen. Gut 110 Platten sind sorgfältig restauriert, die älteste datiert von 1244. Die hebräischen Inschriften sind ungewöhnlich gut erhalten. Der teils poetische Inhalt mit bewegenden Lebensgeschichten ist bei einer Führung zu erfahren. Das gotische Steinhaus ergänzt die Ritualbauwerke im Unesco-Vorhaben um ein bürgerliches Gebäude mit einer farbig bemalten Balkendecke im Obergeschoss. Es lässt sich spätestens seit dem 13. Jahrhundert einem jüdischen Besitzer zuordnen.
"Der Friedhof ist sogar wichtiger als die Synagoge", sagt Rabbiner Alexander Nachama. Beten könne man schließlich überall. Doch ein geschützter Platz für die Toten ist nach jüdischem Verständnis existenziell. Der junge Rabbiner steht der Gemeinde in Thüringen seit 2018 vor. Die Neue Synagoge ist ihr Zentrum, der einzige Synagogenbau der DDR. "Wir sind eine kleine Gemeinde, die schrumpft", sagt er. Das sei der Trend.
In Erfurt gab es 1942 keine Juden mehr. Während der DDR zählte die Gemeinde 28 Mitglieder, jetzt sind es rund 800. Die meisten stammen aus Russland, die nach dem Zerfall der Sowjetunion kamen. "Die Möglichkeit, an das Judentum anzuknüpfen, setzt eine Synagoge, einen Rabbiner und ein Gebetsbuch voraus", sagt Nachama. Doch das Wissen über die Religion sei zu oft verloren gegangen. Das Welterbe-Projekt sieht der Rabbiner positiv. "Es zeigt, dass das jüdische Leben nicht erst kürzlich entstanden ist, sondern 900 Jahre zurückverfolgbar ist." Ihm hafte nichts Exotisches an.
Über das mittelalterliche Erbe hinaus lassen sich in Erfurt weitere Berührungspunkte finden, die das Netzwerk "Jüdisches Leben" bilden. Der Neue Jüdische Friedhof im Süden der Stadt gehört dazu. Kaum tritt der Besucher von der verkehrsreichen Hauptstraße durch das Portal, empfängt ihn die Ruhe des ewigen Schlafes. Eine breite Lindenallee führt zur Trauerhalle hinauf, einem byzantinisch-maurischen Bau. Links und rechts gehen die mit Efeu bewachsenen Grabfelder ab.
Auf dem parkähnlichen Gottesacker erstrecken sich auf einem Areal von anderthalb Hektar Gräber ab 1878 bis in die Jetztzeit. "Schalom" begrüßt Annelie Hubrich zu ihrer Führung. Das Wort ist ein unter Juden üblicher Gruß, bedeutet aber auch Frieden und Sicherheit. "Das ist, was man von seiner letzten Ruhestätte erwartet", sagt sie. Seit 2011 dokumentiert und erforscht die zierliche dynamische Frau die Grabstellen im "Haus des Lebens".
Für Hubrich ist es ein steinernes Archiv. Es birgt an die 1.000 nie geschändete Gräber mit meist stehenden Grabsteinen – verwitterte, bemooste, unversehrte, geklebte, abgestrahlte, die wie neu wirken, solche mit deutschen, hebräischen und russischen Inschriften. "Der Friedhof ist das Gedächtnis wider das Vergessen", sagt die Hobby-Dokumentarin, die vor allem die Schicksale der Toten erforscht. So deuten etwa Fehlstellen in den Gräberreihen, unbenutzte Grabstellen und Gedenkschriften auf die Folgen des Holocausts.
Viele Stelen zeigen eingemeißelte Davidsterne, Mohnblumen, Fische oder die segnenden Hände. Die sich berührenden Daumen und Zeigefinder bilden Dreieck, wobei Ring- und kleiner Finger gemeinsam abgespreizt werden. "Das ist das Zeichen für einen jüdischen Priester oder Cohen", sagt die ehrenamtliche Wächterin der Gräber. Die Geste ist aber noch aus einem anderen Kontext gut bekannt – aus der Filmserie "Star Trek: Enterprise".
Sie war das Markenzeichen von Mr. Spock, dem Außenseiter aus Vulkanien der in den 1960er Jahren zusammen mit Captain Kirk durch die Galaxien flog. Der amerikanische Schauspieler Leonard Nimoy (1931-2015) spielte den Wissenschaftsoffizier und etablierte den kultig gewordenen Gruß des Außerirdischen, der seine Wurzeln im Judentum hat.
Eine berührende Symbolik findet sich noch in der Trauerhalle. Am Eingang befinden sich mit Wasser gefüllte Steinbecken, mit dem sich die Lebenden nach der Feier den Tod abwaschen. "Wir sind noch nicht dran", erklärt Hubrich. Und sie meint: Lebe jetzt. Denn deine Zeit ist begrenzt.
Nach dem Neuen Jüdischen Friedhof schlägt der Bogen der Geschichte am Erinnerungsort Topf & Söhne brutal zu. "Stets gern für Sie beschäftigt" steht heute an der Fassade des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des Erfurter Familienunternehmens, das während der Nazi-Zeit Hochleistungsöfen für Konzentrations- und Vernichtungslager wie Buchenwald und Auschwitz produzierte. Die Grußformel aus einem fast normalen Geschäftsbrief eines fast normalen Großunternehmens, in dem sich die Prokuristen 1943 der Bauleitung der Waffen-SS empfahlen.
Die Ausstellung dokumentiert am Originalschauplatz, welche Rolle die Feuerungstechnische Maschinenfabrik beim Massenmord an Juden spielte und fragt nach den Motiven der Akteure. "Aus den Dokumente geht hervor, dass sie genau wussten, dass die Öfen der Vernichtung von Menschen dienten", sagt Rebekka Schubert, die das Gelände als politisch-historischen Lernort versteht. Denn viele der Fragen lassen sich in die Gegenwart übertragen: Warum machten sie mit? Warum diese Unmenschlichkeit? Wieso dieser Eifer, nach immer noch effizienteren Lösungen zu suchen? "Ihre Haltung war: nur nicht hinterfragen", sagt die Museumspädagogin.
Das Unternehmen produzierte seit 1914 Feuerbestattungsöfen für städtische Krematorien. Mit 1.150 Beschäftigten erreichte die Belegschaft 1939 ihren höchsten Stand. Nicht wenige wurden zu Mitwissern und Mittätern – Ingenieure, Kaufleute, Facharbeiter, Monteure.
Topf & Söhne war eines von zwölf zivilen Unternehmen, die eine Schlüsselrolle beim Bau der Krematorien für Todesfabriken spielten, Massenverbrennungstechnik und Belüftungsanlagen für Gaskammern herstellten. Auf drei Etagen wird gezeigt, wie banal alltäglich die Ingenieure der "Endlösung" ehrgeizig und vorbehaltlos an Lösungen arbeiteten, um die Beseitigung von Millionen Leichen zu perfektionieren, sie möglichst effektiv, kostengünstig und unauffällig beiseitezuschaffen – geräuschlos, geruchlos, sauber.
Das Beunruhigende sei, sagt Schubert, dass weder die Firmeninhaber noch die Mitarbeiter fanatische Nationalsozialisten oder Antisemiten waren. Sie handelten weder auf Befehl noch unter Druck, sondern freiwillig, in völliger Abwesenheit von Mitmenschlichkeit und Zivilcourage. Aus den Fenstern der Ingenieursetage kann man zum Ettersberg hinübersehen – zum Glockenturm, der an das dortige KZ Buchenwald erinnert.
Aus alten Briefen lässt sich nachvollziehen, wie einfach es ist, unmoralisch zu handeln, wenn der gesetzliche Rahmen erst einmal kaputt ist. Deshalb ist für die Museumspädagogin Schubert die Betriebsstätte des Holocausts ein wichtiger Ort der politischen Bildung, der Toleranz und der Mitmenschlichkeit: "Wenn wir uns heute die Frage nach der Verantwortung unseres Tuns stellen", sagt sie, "dann hat die Ausstellung viel erreicht."