#MuseenEntdecken – Einblicke in die Dauerausstellung: Das Lili-Jacob-Album
#MuseenEntdecken
Unsere freiberuflichen Guides geben Einblicke in ihre Arbeit mit Besuchergruppen in der Dauerausstellung "Techniker der 'Endlösung'". Sie stellen verschiedene Stationen oder zentrale Dokumente vor. Dabei erzählen sie, warum diese für sie besonders wichtig sind, welche Fragen sich in der Auseinandersetzung mit ihnen für unsere Gegenwart ergeben und welche Gespräche sich mit unseren Gästen entwickeln.
Benjamin Grünewald (27) ist seit 2018 als Guide im Erinnerungsort Topf & Söhne tätig. Für ihn ist das Album, das Lili Jacob 1945 nach ihrer Befreiung im Konzentrationslager Mittelbau-Dora fand, ein besonders wichtiger Teil der Führung.
Das Lili-Jacob-Album
Gegen Ende der Führung durch die Dauerausstellung des Erinnerungsortes Topf & Söhne komme ich auf das Auschwitz-Album von Lili Jacob zu sprechen. Die Fotos aus diesem Album, von denen wir einige zeigen, sind außergewöhnliche Beweise des Völkermords im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Das Fotoalbum enthält auf 56 Seiten 193 Bilder, die die Ankunft der ungarischen Juden 1944 in Auschwitz-Birkenau zeigen. Im Sommer 1944 wurden 438.000 Menschen in 147 Transporten von Ungarn nach Auschwitz verschleppt – im Durchschnitt 3000 Personen pro Transport. Fast alle von ihnen wurden direkt nach der Ankunft ermordet.
Durch die Betrachtung der Bilder werden viele Fragen aufgeworfen: Wer hat die Fotografien gemacht? Was kann man auf ihnen erkennen? Welche Aspekte wurden dargestellt? Welche fehlen und welche wurden möglicherweise bewusst weggelassen? Was könnte der Zweck der Fotografien gewesen sein? Auf diese Fragen versuche ich, gemeinsam mit den Besuchergruppen Antworten zu erarbeiten.
Das Album wurde höchstwahrscheinlich auf Befehl von Lagerkommandant Rudolf Höß für Zwecke der SS angelegt. Bei den beiden Fotografen handelte es sich um die SS-Männer Bernhard Walter und Ernst Hofmann, Mitarbeiter des Erkennungsdienstes im Lager. Die Fotos zeigen das Ankommen an der Rampe und die Selektion durch die SS. Es sind auch wartende Menschen in unmittelbarer Nähe der Krematorien abgebildet, Menschen, die dort in der Gaskammer kurz nach der Entstehung des Fotos ermordet wurden.
Im Gespräch in der Gruppe wird deutlich: Diese Bilder sind inszeniert. Die Fotografen wirkten immer wieder steuernd auf ihr Motiv ein. So unterbrachen sie den Selektionsvorgang, um die Szene vom Dach eines Waggons fotografieren zu können. Oder sie sorgten dafür, dass Gruppen von Frauen und Kindern auf dem Weg in die Gaskammern stehen blieben und sich umdrehten, nur um Bilder von ihnen machen zu können. Die Fotos sind bis heute der zynische Beleg für die grenzenlose Entrechtung und perfide Täuschung der Opfer noch in den letzten Stunden.
Gleichzeitig geben die Fotos ungewollt den Opfern ein Gesicht. Überliefert ist das Album von Lili Jacob, einer Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, in welchem sie das Album nach ihrer Befreiung 1945 fand. 1980 überreichte sie es der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Sehr ergreifend sind für mich die Führungen, die ich mit Mahmoud Ramok Baki gebe. Mahmoud ist ehemaliger Bundesfreiwilliger am Erinnerungsort Topf & Söhne. Mit ihm gemeinsam betreue ich deutsch-arabische Rundgänge sowie Workshops. Mahmoud berichtet davon, dass ihn die Bilder an seine eigene Geschichte erinnerten, als er sie zum ersten Mal sah. Bei seiner Flucht vor Krieg und Verfolgung in Syrien war er mit zahlreichen Menschen in einem Transporter zusammengepfercht. In diesem Wagen blieben er und seine Schwestern mehrere Tage eingesperrt, bis sie in Deutschland angekommen waren. Mahmoud konnte nicht sicher sein, aber er hoffte, dass ihre Flucht gut endet. Glücklicherweise wurde es eine Reise in Freiheit.
Für die ungarischen Juden, die auf den Fotografien zu sehen sind, war es die erzwungene Reise in den Tod, am Ende eines langen Leidensweges der Demütigung, Entrechtung, Beraubung und Verschleppung.
Mahmoud erfuhr in Deutschland zum ersten Mal vom Völkermord an den europäischen Juden. Die deutsche Geschichte war ihm fremd. Aber gerade weil ihn die Fotos aus dem Auschwitz-Album an seine eigenen Fluchterfahrungen erinnerten, ermöglichten sie ihm einen persönlichen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Heute ist es ihm ein Anliegen, die Geschichte hinter den Bildern zu erzählen, um deutlich zu machen, dass Demokratie und Menschenrechte für eine offene und lebenswerte Gesellschaft existentiell sind.
Weil der geschichtliche Zugang für Jugendliche gerade über visuelle Medien funktioniert, ist es mir wichtig, mit ihnen intensiv über das Album sowie dessen Inhalte und Hintergründe zu sprechen – besonders hier am Erinnerungsort Topf & Söhne. Denn die Be- und Entlüftungsanlagen für die Gaskammern sowie die Leichenverbrennungsöfen für die Krematorien in Auschwitz-Stammlager und Auschwitz-Birkenau wurden einst exakt an diesem Ort geplant, entwickelt und produziert, an dem ich heute Führungen gebe.
Benjamin Grünewald
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